Staatsexamen
,2 Inhalt Lehramtsprüfungsordnung I
Inhalt Lehramtspr fungsordnung I
1) Rahmenbedingungen religionsdidaktischer Reflexion
a. soziokultureller Kontext: Theorien der Säkularisierung und des Wandels von Religion, Pluralismus, Individualisie-
rung, multireligiöse Gesellschaft
b. anthropologischer Kontext: religiöse Entwicklung, Gottesfrage und Kontingenzbewältigung, Schüler/ Schülerinnen
als Subjekte
c. rechtlicher Kontext: verfassungsrechtliche Verankerung, Konfessionalität des RU, Diskussion von alternativen For-
men
2) Religionsdidaktische Konzepte, Inhaltsbereiche und Prinzipien
a. Konzeptbildung: Begründungs- und Gestaltungsprinzipien von Konzepten (Theorie-Praxis-Verhältnis; religionspä-
dagogischer Hintergrund, Kontextualität, Interdisziplinarität, aktuelle Bedeutung der jeweiligen Konzepte)
b. konzeptuelle Entwürfe: Synodenbeschluss, korrelativer RU, Symboldidaktik, aktuelle Anfragen und Konzepte
c. religionsdidaktische Begründung und Entfaltung inhaltlicher Schwerpunkte: Bibel, Glaubenslehre, Gottesfrage, Ethik,
Kirchengeschichte, Weltreligionen, Vorbilder/Modelle
d. religionsdidaktische Prinzipien: ästhetisches Lernen, biographisches Lernen, mystagogisches Lernen, erinnerungs-
geleitetes Lernen, ökumenisches und interreligiöses Lernen, subjektorientiertes Lernen, Lernen als Konstruktion
3) Planung, Durchführung und Evaluation von Religionsunterricht
a. Planung von RU: Planungsprinzipien, Elementarisierung, Didaktische Analyse, Lehrplan
b. Methoden und Medien: grundlegende Lehr- und Lernformen wie Erzählen, Handlungsorientierung, Freiarbeit, Pro-
jektarbeit, fächerübergreifender Unterricht, Medieneinsatz
c. Evaluation: Lehr- und Lernbarkeit von Glauben und Religion, Lern- und Erfolgskontrolle, Selbstreflexion
d. Lehrer/Lehrerinnen: Kompetenzen, Habitus, Spiritualität
,3 Vorbemerkungen
Vorbemerkungen
Religionspädagogik (Kunstmann, 2010)
Religiöses Lernen war lange Zeit der Gegenstand der Katechetik. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts setzt sich die Bezeichnung
Religionspädagogik mit der Religionsdidaktik als Teilbereich durch. Während die Religionspädagogik alle Bildungsbemühungen
an den verschiedenen Lernorten thematisiert, erforscht die Religionsdidaktik die religiösen Lehr- und Lernprozesse, vor allem in
Schule und Religionsunterricht. (Leimgruber/Ziebertz, 2010)
• die Religionspädagogik ist die jüngste theologische Disziplin
• RP ist entstanden aus der Katechetik
• Begründer der wissenschaftlichen RP = Johann Baptist Hirscher (1788-1865) (Ziebertz, 2010)
• als Grund für die Entstehung kann die Modernisierung angegeben werden → unter modernisierten Bedingungen stößt die
Weitergabe des christlichen Glaubens auf Schwierigkeiten durch massiv veränderte Verhältnisse der Lebenswelt
• sie fragt nach der Weitergabe christlicher Gehalte, Einstellungen und Vollzüge und nach deren Plausibilität und Evidenz →
darum fragt sie auch nach dem heutigen Menschen, seinen Prägungen, Bedürfnissen, Lebenseinstellungen und seiner Kultur
/ sie fragt nach den Orten, an denen christliches Lernen geschieht, nach der Bedeutung und dem Verständnis von Religion
heute und nach einer sinnvollen religiösen Didaktik
Religionsdidaktik =
„Religionsdidaktik ist die wissenschaftliche Reflexion religiösen Lernens (Schülerperspektive) und die Reflexion des Lehrens
religiösen Lernens (Lehrerperspektive). […] Religionsdidaktik verhilft zu einer wissenschaftlich begründeten reflexiven Kompetenz
hinsichtlich der Planung, Durchführung und Evaluation religiöser Lernprozesse sowie deren edukativer Verantwortung.“ ( Ziebertz,
2010)
(Religions)didaktik ≠ reine Ausführungsdiziplin → (Religions)didaktik hat einen theoretischen Anspruch (Leimgruber/Ziebertz, 2010)
• die Ziele, die sie begründen will, sind nicht aus der Praxis selbst ableitbar
• es sind Modelle und Theorien nötig, die gegenüber der Praxis eine kritische Funktion erfüllen
• Vorannahmen und Interessen können ebenfalls nur durch eine Theorie geklärt werden
„Die Religionsdidaktik will die Praxis religiösen Lernens beschreiben, verstehen und erneuernd auf sie einwirken. Sie versteht sich
als theologische Disziplin auf interdisziplinärer Grundlage, insofern Wissen mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler unter
sozialen, (entwicklungs-)psychologischen und didaktischen Gesichtspunkten eingespeist wird und die inhaltliche Seite vor allem
in Kooperation mit den theologischen Disziplinen reflektiert wird.“ (Leimgruber/Ziebertz, 2010)
Merkmale der Religionsdidaktik (Leimgruber/Ziebertz, 2010)
• empirisch orientiert: bezieht sich auf eine faktische Praxis
• hermeneutisch interessiert: will verstehen, was sich in der Praxis ereignet
• kritisch orientiert: Schüler*innen als Subjekte, die nicht verdinglicht werden, sondern auf ihrem Weg zum Subjekt begleitet
werden sollen
Literatur
• LEIMGRUBER, Stephan / ZIEBERTZ, Hans-Georg: Religionsdidaktik als Wissenschaft, in: HILGER, Georg et al. (Hgg.): Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für
Studium, Ausbildung und Beruf, München 2010, 29-40.
• ZIEBERTZ, Hans-Georg: Gegenstandsbereich der Religionsdidaktik, in: HILGER, Georg et al. (Hgg.): Religionsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung
und Beruf, München 2010, 17-28.
,4 Vorbemerkungen
TEIL A
Rahmenbedingungen religionsdi-
daktischer Reflexion
,5 Kapitel 1: Religiöse Bildung
Kapitel 1: Religi se Bildung
Seit der Wiederaneignung des Bildungsbegriffs, beginnend in den 1980er Jahren, ist dieser zunehmend zu einem unverzichtbaren
religionspädagogischen Leitbegriff avanciert. Religiöse Bildung befasst sich mit drei Gegenstandsbereichen: Religion, Religiosität
und Religionskultur. (Kropač, 2021)
Religionsunterricht wird heute fraglos als Bildungsgeschehen gedeutet und entsprechend gestaltet. (Kropač, 2019/Dressler, 2018)
Bildung hat sich „konfessionsübergreifend als religionspädagogischer Leitbegriff etabliert“ (Ritter/Simojoki, 2014)
1. Verhältnis Religion und Bildung (Kropač, 2021)
Religion besitzt Bedeutung für Bildung Religion ist auf Bildung angewiesen
• Religion hält auch für moderne säkulare Gesellschaften Ver- • die sogenannten Buchreligionen (Judentum, Christentum, Islam)
nunft-, Sinn- und Sprachpotenziale bereit, die dazu beitragen sind auf eine umfassende „Kultur des Lesens und Schreibens,
können, den negativen Folgen der Modernisierungsprozesse zu des Verstehens und Auslegens“ (Schweitzer, 2006) angewiesen
begegnen (z.B. Relativierung der menschlichen Würde) • Offenbarung setzt ein bildsames menschliches Wesen voraus,
• allgemeine Bildung wäre ohne religiöse Bildung unvollständig, da denn andernfalls könnten religiöse Erfahrungen gar nicht als sol-
Religion eine spezifische menschliche Praxis und einen spezifi- che erkannt, gedeutet und in Handlungsimpulse umgesetzt wer-
schen Modus der Welterschließung darstellt den
• Religion fungiert als Prüfstein für Menschenbilder in Bildungskon- • Bildung übt eine zivilisierende Kraft auf Religion aus und wirkt
zepten und erhebt dort Einspruch, wo Bildung z.B. auf den Erwerb insbesondere fundamentalistischen religiösen Ideen entgegen
von Qualifikationen verkürzt oder ökonomisch verzweckt wird
→ Bildung bedarf der Religion und Religion der Bildung (Dressler, 2006)
2. Was ist religiöse Bildung?
2.1 Der Bildungsbegriff (Kropač, 2021)
Ursprung: Bildung des Aufklärung: Bildung im Dienste
heute: Bildung als
Menschen zur Gottes- der Selbstvervollkommnung
Qualitätsmerkmal
ebenbildlichkeit (Gen 1,26) des Menschen
Bildung als Verständigungsbegriff: es muss je neu ausgehandelt werden, was damit gemeint ist
2.2 Religiöse Bildung (Kropač, 2021)
Vieldeutigkeit des Bildungsbegriffs wirkt sich auch auf den Begriff der religiösen Bildung aus. Auch hier gelingt es nicht, eine
eindeutige Definition herauszustellen. Stattdessen haben sich wichtige Elemente einer religiösen Bildung entwickelt.
Religiöse Bildung erschließt Bildung Religiöse Bildung verschränkt
als einen eigenständigen Modus des Religiöse Bildung befähigt zum Indukation und Edukation: Indukation
Weltverstehens → Religion als Perspektivenwechsel → vermittelt zielt darauf, mit der Wirklichkeit von
Selbst- und Weltdeutung, die auf ALLEN Menschen eine differenzierte Religion vertraut zu machen ↔
Erfahrungen von Unverfügbarkeit und Sicht von Wirklichkeit Edukation befähigt das Individuum zu
Unbedingtheit gegründet ist einer eigenständigen Position
Religiöse Bildung versetzt Menschen Religiöse Bildung befreit Bil-
Religiöse Bildung als kritische Instanz
in die Lage, kompetent am kulturellen dungsprozesse von "belastenden
gegen die Engführung des Bildungs-
Leben ihrer Gesellschaft im Hinblick Vollkommenheitsforderungen" →
begriffs → Zweckfreiheit von Bil-
auf Religion teilzunehmen: Urteils- Bruchstückcharakter des Lebens,
dung
fähigkeit, Pluralitätsfähigkeit, ... Verzicht auf das Ideal einer Ganzheit
,6 Kapitel 1: Religiöse Bildung
3. Der Gegenstand religiöser Bildung
Der Gegenstandsbereich religiöser Bildung wird häufig lediglich mit „Religion“ in Verbindung gebracht – dies ist allerdings eine
Engführung des Begriffes der religiösen Bildung. Weiterführend ist der Vorschlag, das Attribut „religiös“ in einem dreifachen Sinne
auszulegen: in Bezug auf Religion bzw. Religionen, auf Religiosität und auf Religionskultur. (Kropač, 2021)
3.1 Religion (Kropač, 2021)
Religiöse Bildung hat sich mit Religion zu befassen. Was aber ist Religion? Dazu gibt es hunderte von Definitionen, die in zwei
Typen unterschieden werden können.
Substanziale Religionsdefinitionen Funktionale Religionsdefinitionen
kreisen um einen Bezugsgegenstand: z.B. Gott/Götter, das haben ihre Mitte in einem Bezugsproblem: beschreiben, wel-
Heilige, aber auch eine Nation, Familie, Geld usw. che Leistung Religion erbringt, um dieses Problem zu lösen
Beispiel: „Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Hei- Beispiel: „Religion ist Kontingenzbewältigung durch Anerken-
ligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimm- nung unserer schlechthinnigen Abhängigkeiten.“ (Lübbe)
ten Menschen.“ (Mensching)
Für die Religionspädagogik ergibt sich auf Grundlage der Definition von Pollack und einer Erweiterung des Bezugsproblems auf
die „großen Fragen“ (z.B. Woher komme ich? Existiert Gott? etc.) ein brauchbarer Begriff von Religion. Unter „Religion“ fallen
dann…
all jene Geschehnisse, bei denen
Menschen Antworten auf „große
Fragen“ erfahren, und zwar so, dass
in diesem Akt einerseits die ver-
das Christentum in seiner andere (Welt) Religionen (in ihren
fügbare Lebenswelt überschritten
konfessionellen Vielfalt unterschiedlichen Verzweigungen)
(Moment der Transzendenz), an-
dererseits gleichzeitig ein Bezug zu
eben dieser Lebenswelt hergestellt
wird (Moment der Immanenz)
Der gewählte Religionsbegriff hält die Mitte zwischen Konkretion und Universalität. Er umfasst die historisch gewachsenen Reli-
gionen, ist aber auch für Phänomene wie New Age oder Okkultismus offen.
3.2 Religiosität
3.2.1 Entwicklung (Kropač, 2021)
• 1960er Jahre: Überlegungen zur Erweiterung des Religionsbegriffs
• Orientierung nicht mehr an den traditionellen Kirchen des Christentums, sondern an einem persönlichen Verhältnis des Men-
schen zu einem Unbedingten
• wegweisend Definition nach Tillich (1964): „Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes das, was uns unbedingt
angeht.“
• Grenze: alles Mögliche kann als religiös identifiziert werden → z.B. Fußballverein, politische Ideologie, …
3.2.2 Heute: Vorschlag von Ulrich Hemel (1988)
1. anthropologisch: indem er das Existenzial eines Weltdeutungszwangs bzw. einer Weltdeutungskompetenz postuliert
2. Religiosität kommt ins Spiel: Ausprägung des Verständnisses von Welt und Selbst unter Verwendung religiöser Kategorien
,7 Kapitel 1: Religiöse Bildung
Religiosität =
Religiosität ist „die individuelle Ausprägung eines persönlichen Welt- und Selbstverständnisses unter Verwendung religiöser
Kategorien.“ (Hemel 2002)
3.2.3 Folgerung für die Religionspädagogik (Kropač, 2021)
Durch die Anerkennung von Religiosität als einer eigenen Größe rückt die Biographie des Individuums in das Blickfeld der Reli-
gionspädagogik. Religiosität entwickelt sich nicht anders denn in biographischen Prozessen, in ihnen schneiden sich „objektive“
Religion und „subjektive“ Religiosität. Religiöses Lernen ist folglich in Teilen als biographisches Lernen zu gestalten.
3.3 Religionskultur (Kropač, 2021)
Religion ist unauflösbar verbunden mit Kultur. Eine kulturlose Religion gibt es nicht.
Religionskultur =
Religionskultur beruht auf Wechselwirkungen „zwischen der faktischen oder potenziellen Religiosität der Einzelnen sowie über-
individuellen religiösen Traditionen und Erscheinungsweisen kultureller Prägung.“ (König, 2012)
Religiöse Bildung in der Schule muss sich auch diesem Feld zuwenden
• die Auffassung von Religion und Religiosität ergibt sich für Schüler*innen immer weniger aus den Bezügen zu Familie und
Gemeinde, sondern immer mehr aus ihrer Prägung durch religionskulturelle Elemente und deren individueller Rezeption
• es muss eine Analyse vielfältiger Einbindungen des Einzelnen in kulturelle Muster erfolgen → Voraussetzungen, Gehalte
und Umgangsformen für die religiöse Positionierung erheben → kultursensibel arbeitende RP setzt Wende zum Subjekt fort
• systematische Einbindung der Religionskultur in Prozesse religiöser Bildung erweitert Verstehenszugänge der Lernenden zu
Religion und Religiosität
• Aufgabe: Religion von ihren gesellschaftlichen und kulturellen Wirkungen her verstehbar machen
→ neben den sachlogischen („Religion“) und subjektorientierten („Religiosität“) tritt der kultursensible „(Religionskultur“) Zugang
4. Empirische Daten zum Religionsunterricht allgemein
• Beliebtheit bei Schüler*innen in der Grundschule noch sehr hoch, in Sek I und II abnehmend (Bucher, 2000)
• beliebte Themen sind andere Religionen, gerechte Gesellschaft und gelingendes Zusammenleben ↔ eher unbeliebt sind
klassische Themen wie Bibel, Kirchengeschichte oder Jesus Christus (Riegel, 2006)
• in der Grundschule ist vor allem eine kreative Auseinandersetzung mit Themen beliebt (Bucher, 2000)
5. Literatur Kapitel 1
• KROPAČ, Ulrich: Religiöse Bildung, in: KROPAČ, Ulrich / RIEGEL, Ulrich (Hgg.): Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 17-
28.
• RIEGEL, Ulrich: Wissen über unterrichtsbezogene Einstellungen und Präkonzepte von Schülerinnen und Schülern sowie Lehr-
personen, in: KROPAČ, Ulrich / RIEGEL, Ulrich (Hgg.): Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 154-162.
• ZIEBERTZ, Hans-Georg: Warum die religiöse Dimension der Wirklichkeit erschließen?, in: HILGER, Georg et al. (Hgg.): Religi-
onsdidaktik. Ein Leitfaden für Studium, Ausbildung und Beruf, München 2010, 123-141.
,8 Kapitel 2: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen religiöser Bildung
Kapitel 2: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen religi ser Bildung
Verglichen mit den entsprechenden Voraussetzungen und Gegebenheiten der Gesellschaft vor etwa fünf Jahrzehnten stehen
Religionslehrkräfte heute vor einer stark veränderten Situation. Religiöse Individualität, Pluralität, Globalität sowie veränderte
Kindheit sind Kennzeichen unserer Zeit. (Ritter/Simojoki, 2014) Da religiöse Lernprozesse stets in einem bestimmten gesellschaftli-
chen Kontext stattfinden, ist eine Betrachtung der Lebenswelt heutiger Kinder und Jugendlicher für die Planung religiöser Lern-
prozesse unablässig. Demnach haben die Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft auch Auswirkungen auf die Ziele und Ge-
staltungsmöglichkeiten religiöser Lernprozesse. (Ziebertz, 2010) Insbesondere die anthropologische Wende in der Theologie infolge
des 2. Vatikanischen Konzils fordert ein solches Vorgehen. Diese geht – im Unterschied zu den früheren deduktionistischen
Konzepten religiösen Lernens - davon aus, dass eine unhinterfragte Belehrung in unserer postmodernen Pluralität einen unzu-
reichenden Ansatz darstellt, da nicht von einer homogenen christlichen Gesellschaft ausgegangen werden kann. (Mendl, 2018)
Die Entwicklung der Religiosität bleibt von den gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen nicht unberührt und bringt
verschiedene Probleme, aber auch besondere Chancen mit sich. (Ziebertz, 2010)
I Moderne und Postmoderne
Die Gesellschaftssituation in Westeuropa wird mit den Stichworten „Spätmoderne“ bzw. „Postmoderne“ gekennzeichnet. Im
Folgenden wird geklärt, welche Rolle Religion in einer Gesellschaft hat, die vor allem durch die Prozesse der Pluralisierung,
Individualisierung und Globalisierung gekennzeichnet ist. (Mendl, 2018)
1. Moderne
1.1. Begriffsbedeutung (Ziebertz, 2010)
Moderne =
„Unter ‚Moderne‘ wird in wirtschaftlicher Hinsicht die Ablösung agrarischer und die Herausbildung industrieller Gesellschaften
verstanden. Politisch brechen die feudalen Machtstrukturen des Mittelalters zusammen und es entstehen ‚Gesellschaften‘ mit
demokratische(re)n Konturen.“ (Ziebertz, 2010)
• Moderne beginnt mit der Aufklärung, im engeren Sinne im 19. Jahrhundert
• Kirche wehrt sich lange Zeit gegen die Moderne → erst II. Vatikanum bringt ein neues, partnerschaftliches Verhältnis zwi-
schen Welt und Kirche „zurück“
1.2 Kennzeichen der Moderne (Kunstmann, 2010)
die Moderne verändert alle Lebensbereiche rasant und von Grund auf → moderne
Wissenschaft und durch sie ermöglichte Technik (Dampfmaschine, Telegrafie,
Elektrizität etc.) sowie die Industrialisierung (Kohlebergbau, Eisenbahn, Fabriken
usw.); materielle Versorgung; moderne Medizin und Hygiene
Bevölkerungswachstum: etwa Verzehnfachung der Bevölkerung seit der
Aufklärung
Neuordnung Europas durch Napoleon; Ende der Kirchen- und Klosterherrschaft mit
der Säkularisierung 1803 sowie der Leibeigenschaften
Erstarken der Nationalstaatlichkeit, Ausbau des Rechtswesens, soziale
Umschichtung und Zerstörung der gewachsenen Ordnungen → aber: Elend der
neuen Arbeiterklasse
geistliche Entwicklung: Ausbau der philosophischen Vernunft; Lebenswelt bleibt
trotzdem christlich bzw. kirchlich geprägt
,9 Kapitel 2: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen religiöser Bildung
2. Postmoderne (Ziebertz, 2010)
• Postmoderne ≠ neues Zeitalter
• Postmoderne = der postmoderne Blick deckt Licht- und Schattenseiten der Moderne auf → Identifikation von Chancen und
Grenzen (Ausbeutung von Ressourcen, Klimawandel, Ungerechtigkeit usw.)
• Kennzeichen der Moderne = Vielfalt → in der Postmoderne kann es nicht mehr gelingen, die Vielfalt auf eine gemeinsame
Wurzel zurückzuführen → „Einheit“ ist ein Kennzeichen der Vergangenheit (Lyotard, 1984)
• erste Wahrnehmung und Sensibilisierung für Umweltzerstörungen und stark anwachsende Zivilisationskrankheiten v.a. in
den 1970er Jahren → Waldsterben, Raubbau an Bodenschätzen, Tschernobyl 1986, Dezimierung der Tierwelt, Verschmut-
zung von Wasser und Luft, Böden usw. sowie Sucht, Neurodermitis, Asthma, Krebs usw. (Kunstmann, 2010)
II. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen religiöser Bildung
Aktuell spielen im Blick auf den deutschen Kontext vor allem drei Ansätze zur Deutung des Wandels von Religion in spätmo-
dernen Gesellschaften eine Rolle. (Simojoki, 2021)
• Säkularisierungsthese: langfristiger Bedeutungsverlust von Religion in der Moderne
• Individualisierung: statt Religionsverlust ein modernitätsspezifischer Transformationsprozess von Religionen
• Globalisierung: Religion in globalisierter Gestalt
Vorbemerkung: Spannungsverhältnis zwischen Religion und Gesellschaft (Ritter/Simojoki, 2014)
zeigt sich auch im Ver-
Veränderung der Ge- hältnis zwischen Religion
Christentum davon massiv diese gesellschaftliche
sellschaftsstruktur: und Bildungssystem: heute
betroffen: Christentum Differenzierung wiederum
Differenzierung in ver- fast vollständige Trennung
verliert ihre normierende beflügelt nun die Prozesse
schiedene Teilsysteme von Staat und Kirche; das
Kraft für das öffentlich wie der Pluralisierung und
(Politik, Medizin, Recht, Existenzrecht des RUs in
private Leben Individualisierung
Bildung, Religion usw.) der Schule muss päda-
gogisch begründet werden
1. Säkularisierungstheorien
1.1 Grundannahme der Säkularisierungstheorien
• Religion büßt in sich modernisierenden Gesellschaften irreversibel an sozialer Bedeutung ein (Simojoki, 2021)
• Säkularisierungstheorien = Auffassung, dass mit der fortschreitenden Modernisierung von Gesellschaften zwangsweise ein
Bedeutungsverfall – bis hin zum Ende von Religionen – einhergehen werde
• Grund ist das Gesellschaftskonstrukt der Moderne: Wissenschaftsgläubigkeit, Fortschrittsdenken und Glaube an die Stärke
des Subjekts (Heiser, 2018)
Vorrang der Rationalisierung/Vernunft:
"Entzauberung der Welt" (Weber)
verschiedene
Aspekte
funktionale Differenzierung: soziale Welt gliedert sich
weltanschauliche in mehrere funktional spezialisierte, aber strukturell
Pluralisierung gleichrangige Teilsysteme (Luhmann) → wenig
Einfluss eines Bereiches auf die anderen
, 10 Kapitel 2: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen religiöser Bildung
1.2 Religionsdidaktische Implikationen (Simojoki, 2021)
• Aufzeigen, dass religiöse Wirklichkeitszugänge nicht in Konkurrenz zur neuzeitlichen Rationalität stehen, sondern eine wich-
tige Ergänzung derselben darstellen
• der Dimension des Unverfügbaren und Unverzweckbaren Ausdruck und Gestalt geben
• Notwendigkeit fächerverbindender Kooperationen / Projektlernens, in dem der Zusammenhang von Religion und anderen
Gesellschaftsbereichen sichtbar wird
• Identitätsbildung: Orientierung in einer pluralen Welt
1.3 Grenzen der Säkularisierungsthese (Simojoki, 2021)
• Konzentration auf westliche Kulturkreise → in globaler Perspektive kein Verschwinden der Religionen zu verzeichnen
• Konzentration auf kirchliche oder andere sozial gebundene Ausdrucksgestalten von Religion → vernachlässigen nicht insti-
tutioneller Religionsformen → hier setzen Theorien religiöser Individualisierung an
2. Individualisierungstheorien
2.1 Definition
„Individualisierung meint: Wenn sich die moderne Gesellschaft in spezialisierte Teilsysteme aufgeteilt darstellt, dann kann sich
der einzelne Mensch immer weniger an einer umfassend verbindlichen Sozialisationsinstanz orientieren. Vielmehr wird die Ein-
zelperson selbst zur Instanz, die die unterschiedlichen Teilsysteme miteinander vermitteln muss. Das Individuum ist also in der
Gestaltung seines privaten wie seines gesellschaftlichen Lebens weitestgehend auf sich selbst gestellt.“ (Ritter/Simojoki, 2014)
2.2 Kennzeichen der Individualisierung (Ritter/Simojoki, 2014)
„Das Individuum ist nicht mehr durch die herkömmlichen Bindungen (der Familie, des Herkunftsmilieus, der Religion etc.) determi-
niert, sondern davon freigesetzt und hat somit die Wahl zwischen verschiedenen Lebens- und Wertoptionen.“ (Gabriel, 1993)
• primärer Bezugspunkt des Menschen und seiner Erfahrung = die eigene Person, seine eigene Subjektivität
• damit verbunden sind Chancen und Lasten: Freiheitsgewinn vs. Fülle von Wahlmöglichkeiten
• Individualisierung hat wiederum engstens mit Pluralisierung zu tun bzw. ist diese zur Folge
Folge: Menschen binden sich nicht mehr auf Dauer (z.B. Partei, Partner oder Kirche), da so viele andere Möglichkeiten verbaut
werden (Mendl, 2018)
2.3 Gründe und Folgen (Ritter/Simojoki, 2014) (Simojoki, 2021) (RU vor neuen Herausforderungen, 2005)
• auch im Bereich des Religiösen wird vielfach aus verschiedenen Stilen ausgewählt
• „Auswahlchristentum“: Christen stimmen nicht allen Glaubensaussagen ihrer Religionsgemeinschaft zu und kombinieren
christliche Elemente mit anderen religiösen und esoterischen Strömungen
• auch hier wird erkennbar, dass Religion nicht am Ende ist, sondern in gewandelter Form wiedererscheint sowie andere Funk-
tionen, Aufgaben und Riten aufnimmt
• kirchlicher Religionsformen werden oft nach individuellem Bedarf angenommen → z.B. Taufe, Hochzeit, Beerdigung und in
Krisenzeiten (z.B. Trauergottesdienst bei nationalen Katastrophen)
→ Religion zeigt sich in der Postmoderne in differenzierten Formen (Schulz, 2019)