1.Differentielle- und Persönlichkeitspsychologie –
Grundlagen
1.1 Einführung in interindividuelle Differenzen
Allgemeine Psychologie = beschäftigt sich damit, welche grundlegende Gesetzmäßigkeiten und
psychischen Funktionen allen Menschen gemein sind
- Beobachtung einer großen Gruppe von Menschen
- Bildung eines Mittelwertes
- Entwicklung eines allgemeinen Gesetzes
➔ Untersuchung von Gesetzmäßigkeiten des Verhaltens und Erlebens des durchschnittlichen
Individuums
Gefahr: Individuelle Unterschiede werden übersehen
Differentielle Psychologie = beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen den Menschen und
innerhalb eines Menschen im Verlauf der Zeit
- Es geht darum, das Charakteristische einzelner Menschen zu beschreiben, um
interindividuelle Differenzen zwischen verschiedenen Menschen
- Es geht auch darum, intraindividuelle Unterschiede innerhalb desselben Menschen zwischen
verschiedenen Zeitpunkten zu untersuchen → Inwieweit entwickeln und verändern wir uns im
Laufe des Lebens und lernen dazu?
Anwendung: Passende Bewerber finden; Herausfinden, welcher Bildungsweg zum Individuum
passt; in welchem Ausmaß ist es möglich, meine Persönlichkeit zu verändern, zu entwickeln, zu
optimieren?
1.2 Geschichte der differentiellen Psychologie
1.2.1 Antike
Chinesisches Kaiserreich (110 v.Chr.):
- Bewerber für eine Beamtenlaufbahn
- Selektion durch Tests in Musizieren, Bogenschießen, Reiten, Schreiben und Rechnen
Judentum:
- Im alten Testament finden sich Hinweise für eine Vorauswahl
- Feldherr Gideon & seine Soldaten
- Selektion durch Entbehrungen
Lateinische Sprache:
- „persona“ = Persönlichkeit
- Ausgehend Bezeichnung für Tonmasken im Theater → Bezeichnung für die Masken und Rollen,
die Menschen im öffentlichen Leben tragen und einnehmen
- Später als Bezeichnung für die Persönlichkeit dahinter
Heute:
- Persönlichkeit steht für die individuelle Einzigartigkeit eines Menschen als Kombination von
verschiedenen Eigenschaften oder auch besonders auffallende Menschen
,1.2.2 Mittelalter und Neuzeit
Neuzeit:
- Wiederaufkommen des wissenschaftlichen Denkens
Franz Joseph Gall (1758-1828):
- Entwickelte die Theorie der Phrenologie
19. Jahrhundert:
- Interesse für die Forschung zu den Unterschieden zwischen Menschen nahm rasant zu
- Beflügelt durch:
o Evolutionstheorie Charles Darwin
o Vererbungslehre Gregor Mendels
Charles Darwin:
- Stellte die damals revolutionäre These auf, dass Eigenschaften von Menschen und Tieren
nicht zufällig seien, sondern es eine Evolution gibt → eine fortschreitende Entwicklung)
- Demnach setzen sich nach dem Prinzip „Survival oft he Fittest“ immer diejenigen Individuen
durch, die am besten an ihre Umwelt angepasst sind
Gregor Mendel (Augustinermönch):
-
Kreuzte Pflanzen und untersuchte, welche Merkmale sich in welcher Form auf die nächste
Pflanzengeneration weitervererbte
➔ Entdeckte das Gesetz der Vererbung → Grundlagen für die Vererbungslehre
Francis Galton:
- Cousin von Charles Darwin
- Interessierte sich als erster für die Entwicklung von Tests, um die kognitiven Fähigkeiten
von Menschen zu messen
- Testete die visuellen, akustischen Fähigkeiten sowie die Gedächtnisleistung und
Tastfähigkeit
Phrenologie = geht von der Idee aus, dass von der Form des Schädels auf die Ausprägung der
Sinne (z.B. Farben) geschlossen werden kann
- von Joseph Gall entwickelte Theorie
- mittlerweile wissenschaftlich widerlegt
- dennoch Basis für die heutige Hirnforschung
Survival of the Fittest = das Überleben der an ihre jeweilige Umwelt angepassten Individuen einer
Spezies
,1.2.3 Mental Tests und ihre Folgen
James McKeen Cattell:
Annahme: für hohe Intelligenz seien vor allem gut entwickelte Sinnesorgane notwendig
➔ Deshalb fokussierten sich seine „Mental Tests“ auf Themen wie die Reaktionszeit, die
Schmerzempfindlichkeit und die Fähigkeit, visuelle, auditive, taktile oder kinästhetische Reize zu
unterscheiden
- Die Tests korrelierten aber noch kaum mit externen Variablen wie Schulerfolg oder Einschätzung
durch Lehrer und Lehrerinnen, waren also noch nicht gut geeignet, um z. B. schulischen oder
beruflichen Erfolg vorherzusagen
1.2.4 Binet und Stern
Alfred Binet:
- Französischer Pädagoge
- Erkannte die mangelnde Aussagekraft der „Mental Tests“
- entwickelte die Idee, aussagekräftigere Merkmale zu untersuchen, die tatsächlich für
die schulische Leistung und Entwicklung von Kindern ausschlaggebend sein könnten:
Merkmale wie „Gedächtnis, Vorstellungskraft, Aufmerksamkeit, Verständnis,
Suggestibilität, Willensstärke
- bekam vom französischen Bildungsministerium den Auftrag, Tests zu entwickeln, die
Kinder mit Sonderschulbedarf von normalbegabten Kindern unterscheiden sollten
o entwickelte erst 30 Aufgaben, die diese beiden Gruppen voneinander
differenzieren konnten
o später weitere Tests für alle Altersstufen von drei bis 10 Jahren
o Im Test wurden die Kinder jeweils mit dem Durchschnitt ihrer eigenen
Altersstufe verglichen: Durchschnittlich intelligente Kinder konnten 50 bis 75 %
der Aufgaben ihrer eigenen Altersstufe lösen – war das der Fall, dann entsprach
ihr Intelligenzalter ihrem Lebensalter → erstmals möglich, ein Intelligenzalter zu
berechnen
Beispielaufgaben aus dem Binet-Test:
- Für 6-jährige: „kennt Morgen und Nachmittag“
- Für 8-jährige: „benennt vier verschiedene Farben“
- Für 11-jährige: „Nennt 60 Wörter in drei Minuten“
Grundalter: Bis zu welchem Alter kann ein Kind alle Aufgaben lösen?; Dann wird pro Aufgabe einer
höheren Altersstufe, die es lösen kann, ein Fünfteljahr dazu gezählt (da fünf Aufgaben einem Jahr
entsprechen)
- Es wird dabei aber nicht unterschieden, für welches Jahr diese weiteren Aufgaben vorgesehen
sind
Nachteil: Sie rechnete nur den Unterschied zwischen realem Alter und Intelligenzalter in Jahren aus,
setzte die beiden aber nicht zueinander in Bezug
- Problematisch, weil z.B. zwei Jahre Unterschied je nach Lebensalter etwas ganz anderes
bedeuten
, William Stern:
- Entwickelte eine Lösung: Intelligenzquotient
o War damals noch ein tatsächlicher Quotient und setzte das Intelligenzalter zum
Lebensalter in Bezug
o Dieses leicht verständliche Konzept wurde sehr populär und bis in die 1970er-Jahre
basierten die meisten Intelligenztests auf dieser Formel
o Heute wird mit dem Vergleich einer Normstichprobe ermittelt
𝐼𝑛𝑡𝑒𝑙𝑙𝑖𝑔𝑒𝑛𝑧𝑎𝑙𝑡𝑒𝑟
𝐼𝑛𝑡𝑒𝑙𝑙𝑖𝑔𝑒𝑛𝑧𝑞𝑢𝑜𝑡𝑖𝑒𝑛𝑡 = ∗ 100
𝐿𝑒𝑏𝑒𝑛𝑠𝑎𝑙𝑡𝑒𝑟
Normstichprobe = entspricht wichtigen demografischen Merkmalen der Testperson: z.B. wird die
Leistung eines 20-jährigen Studenten mit einem Intelligenztest mit 20-25- jährigen Männern mit
ebenfalls höherer Bildung verglichen
1.2.5 Erfassung der Persönlichkeit – neuere Forschung im 20.
Jahrhundert
Anmerkung:
- je nachdem, welches Menschenbild jemand hat, werden in der Forschung andere Schwerpunkte
gesetzt → es gibt also keine völlig objektive Forschung
- Jeder Forscher und jede Forschungsrichtung besitzen ihre spezifische Geschichte und
entwickeln eine eigene Sicht auf die Welt
- Diese beeinflussen, was überhaupt als wichtig und interessant wahrgenommen wird und welche
Forschungszugänge dafür als passend angesehen werden
1.2.5.1 Tiefenpsychologische Perspektive (Sigmund Freud)
Fokus: Vorgänge innerhalb der Psyche
- Unterscheidet das moralische Über-Ich, das alltägliche Ich und das triebhafte Es → Kämpfe
innerhalb des Menschen
- Diese Konflikte werden von Abwehrmechanismen in Schach gehalten (z.B. Verdrängung oder
Subliminierung)
Forschungsmethoden: Traumarbeit, Introspektion, Selbstanalyse oder projektive Tests wie z. B. die
Rorschach-Tests
1.2.5.2 Phänomenologische Perspektive (Carl Rogers)
Es geht um die Würde und Einzigartigkeit des einzelnen Menschen, um authentische Beziehungen,
um die Betonung des freien Willens und die Möglichkeit, sich selbst neu zu entscheiden und die
Vergangenheit hinter sich zu lassen
Fokus: der Mensch als Wesen, das wandlungs- und entwicklungsfähig ist
- in der Forschung ist es wichtig, individuelle unterschiedliche Sichtweisen zu verstehen;
Annahme: man kann einen Menschen nur wirklich verstehen, wenn man sein Inneres versteht
Forschungsmethoden: Selbstberichte, biografische Analysen