Geschlechter- und Diversitätsforschung
19.04.21
Was ist Geschlechterforschung / Gender Studies?
„Welche gesellschaftliche Bedeutung hat die Unterscheidung von Frauen und Männern? Beispiele
für symbolische Markierungen von Grenzen sind Kleiderordnungen, räumliche Separierungen oder
auch die Aufteilung von Arbeit in „männliche“ und „weibliche“ Tätigkeiten. Dies steckt nicht als
Natur im Menschen. Soziologie und Gender Studies suchen dafür vielmehr soziale Ursachen.“
Geschlechterforschung/ Gender Studies sind…
- ≠ Frauen-, Gleichstellungs- oder Geschlechterpolitik
- ≠ „Frauenthemen“
- ≠ Feminismus
- ≠ praktische Handlungsanleitungen für mehr Gleichstellung
- Ähnlich der Diversitätsforschung („Wertschätzung von Vielfalt“) besteht ein gewisser
normativer Anspruch, der mit einer konstruktivistischen (sozial konstruiert) Vorstellung von
Geschlecht verknüpft ist
- Geschlechterforschung steht in einem mehr oder weniger engen Austauschverhältnis mit
sozialen Bewegungen / Politikfeldern
- ≠ Feminismus -aber teilen drei feministische Anliegen (Degele):
o Geschlecht als zentraler Fokus der Theoriebildung – Entdeckung der Sex / Gender
Unterscheidung und Abkehr von Geschlechtscharakteren (=Zuschreibung von
Eigenschaften aufgrund des Geschlechts)
o Auffassung, dass gegenwärtige Geschlechterverhältnisse problematisch sind und
Veränderung bedürfen
o Geschlechterverhältnisse nicht naturgegeben / unveränderlich -> übergreifendes
Motiv des „Entnaturalisierens“ (= Geschlechterrollen nicht „natürlich“, sondern
gesellschaftlich konstruiert, gegen Biologismus)
Frauenbewegungen
- „..sind in der Moderne verwurzelt und damit dem Erbe der Aufklärung verpflichtet. Denn sie
teilen die Grundgedanken der Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichheit und Solidarität.“
- Auflehnung gegen Frauenunterdrückung begleitete patriarchal organisierte Gesellschaften ->
ABER erst Mitte 19. Jahrhundert entstanden inspiriert ddurch bürgerliche Revolutionen und
Antisklavereibewegung gezielt kollektive „Frauenvereinigungen“
- Feministisches Bewusstsein setzt Zugang zu Wissensbeständen der Gesellschaft und
Versammlungsfreiheit voraus
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,Feminismus
- Begriff kam 1880 in Frankreich in Zsmhang mit Olymp de Gouges „Erklärung der Rechte der
Frau und der Bürgerin“ auf: Ausweitung der Menschenrechte auf Frauen
- In DE im 19. Und 20. Jahrhundert Begriff der Emanzipation vorherrschend, Feminismus erst
ab 60er 70er Jahren
- Feminismus = Ensemble von Debatten, kritischen Erkenntnissen, sozialen Kämpfen und
emanzipatorischen Bewegungen fassen, das die patriarchalen Geschlechterverhältnisse, die
alle Menschen beschädigen, und die unterdrückerischen und ausbeuterischen
gesellschaftlichen Mächte, die insbesondere Frauenleben formen, begreifen und verändern
will
- Olympe de Gouges: Revolutionärin, Frauenrechtlerin, Schriftstellerin & Autorin von
Theaterstücken, Verfasserin der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin
Frauenbewegungen
- Entwicklung der deutschen Frauenbewegung in 3 Wellen:
o 1. Bürgerliche und proletarische Frauenbewegung Mitte 19. / Beginn 20. Jhd. ->
Forderungen nach Zugang zum Studium und Wahlrecht
o 2. „neue Frauenbewegung“: Ende der 1960er / Anfang 1970er -> Forderung nach
Gleichberechtigung in „öffentlichen“ (z.B. Arbeit – bis kein Beruf ohne Zustimmung,
er verwaltet Lohn!) wie auch „privaten“ Bereichen (z.B. sexuelle Selbstbestimmung,
Reproduktionsarbeit)
o 3. heterogenes Ensemble aus (internationalen) Frauenbewegungen,
Gleichsterllungspolitiker*innen und Wissenschaftler*innen
1. Welle der Frauenbewegung
- Gleichheit zwischen Mann & Frau wird im Rahmen der franz. Revolution thematisiert
- USA: Anti-Sklaverei-Bewegung – Abolitionist*innen auch Frauen -> nicht nur Rechte der
Afroamerikaner*innen, sondern auch die der Frauen entsprachen nicht den Bürgerrechten
weßer Männer
- 1848: Declaration of Sentiments auf der Seneca Falls Convention – orientiert sich an US-
amerikanischer Unabhängigkeitserklärung, fordert Gleichheit von Mann und Frau und deren
Rechten
- Elizabeth Cady Stanton, Hauptautorin der Declaration of Sentiments
Ziele der 1. Welle
- Wahlrecht (werden als Suffragetten, suffragate = Wahlrecht von lat. Suffragium =
Abstimmung)
- Recht auf Erwerbsarbeit
- Recht auf Bildung (Zugang zu Unis)
- Umgestaltung der Gesellschaft
- 1. WK: Frauen werden berufstätig, um Männer, die im Krieg o. Kriegsinvaliden sind zu
ersetzen -> „goldene Zwanziger“, liberale Epoche
- Errungenschaften werden von NS-Regime wieder zurückgedrängt
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, Frauenwahlrecht
2. Welle der Frauenbewegung
- Amerikanische Frauenbewegung (Women’s Liberation Movement) geht europäischen
Bewegungen voraus, Bürgerrechtsbewegung
- Nach 2. WK: Frauen sind kaum an weiterführenden Schulen oder Unis vertreten
- Auch nicht in der politischen Repräsentation, obwohl die Gleichberechtigung im
Grundgesetz verankert wurde
o Art. 3 GG: (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind
gleichberechtigt. Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung
von Frauen und Männern und wirkt auf Beseitigung bestehender Nachteile hin.
- Ehemann als gesetzlich definierter „Haushaltsvorstand“
- Bis 1962: kein eigenes Bankkonto ohne Zustimmung des Mannes, bis 1977: Zustimmung des
Mannes, um Beruf ausüben zu dürfen
- Bis 1997: Vergewaltigung in Ehe nicht strafbar, sondern „eheliche Pflicht“
- Abtreibung ist verboten (Auch heute nicht erlaubt, sondern nur bis zur 12. Woche straffrei
nach Beratung – Kontroverse um „Werbeverbot“ §219a – Ärztin darf nicht auf Homepage
darüber informieren, dass sie Abtreibungen durchführt)
- Alltägliches und gesellschaftliche „Normalität“ wird radikal in Frage gestellt
- 68er: SDS ist patriarchal geprägt, Frauen demonstrieren dagegen
- „Das private ist politisch!“ – Arbeitsteilung, Rollenzuschreibungen, Repräsentationsmuster,
Gesetze, Sexualität, Selbstbestimmung
- Protest gegen Abtreibungsverbot (§218) 1971: Selbstbestimmung über weibliche Sexualität
als zentrales Thema
- Stern: Alice Schwarzer initiiert Aktion, 374 Frauen bekennen sich öffentlich zu ihrer
strafbaren Handlung
Ziele der 2. Welle
- Arbeit (gleicher Lohn für gleiche Arbeit)
- Anerkennung von Reproduktionsarbeit als Arbeit (Care-Arbeit)
- Liebe und Sexualität (Recht auf Abtreibung, Vergewaltigung in der Ehe als Straftatbestand,
Schutz vor sexueller Belästigung)
- „feministische Bewegung begann in 60er / 70ern damit, dass Frauen jenseits der Biologie
gewaltsame Schädigungs- und Ausschluss-Geschichte gemeinsam haben: in Randständigkeit
gedrängt, minderwertige Menschen, von öffentlichen Teilhabe ausgeschlossen, alltäglicher
Gewalt ausgeliefert“ (Chrstina Thürmer-Rohr, 1997)
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, 3. Welle der Frauenbewegung
- Global und lokal entstehen neue Initiativen, die als 3. Welle des Feminismus verstanden
werden
- Ausgangspunkt: Weltfrauenkonferenzen, seit 1975 von der UN veranstaltet, Treff- und
Vernetzungspunkt vor allem für Feministinnen aus der „Dritten Welt“
- 1990er Jahre in den USA: Riot Grrrl Bewegung aus der Punk-Szene
- Junge Feministinnen arbeiten im Internet, und zielorientiert in Projekten und Netzwerken
mit feministischer Ausrichtung, z.B. der 1992 in den USA gegründeten Third Wave
Foundation
- Soziale Medien werden als Vernetzungsforen und öffentlichkeitswirksame Plattformen
wichtig (Youtube, Instagram, Twitter)
- #MeToo-Bewegung gegen sexualisierte Gewalt
- Women’s Marches als Proteste gegen Ex-Präsident Trump
- Frauen werden insbesondere in der Öffentlichkeit vermehrt angefeindet, und mit
sexualisierter Gewalt bedroht
- „Incels“ haben Frauen und Feminismus als Feindbild
Von den Frauenbewegungen … zur Geschlechterforschung
Die Frauenforschung hatte eine starke inhaltliche, wenn auch nicht unbedingt institutionelle
Verbindung zur Soziologie. Denn das feministische Credo, das Persönliche ist politisch, ist nichts
anderes als die verschärfte Fassung der soziologischen Binsenweisheit, Individuelles habe
gesellschaftliche Ursachen, und diese seien in Machtverhältnisse verwoben.
- Ursprung der Geschlechterforschung liegt in der zweiten Frauenbewegung, die im Zuge der
68er-Bewegung entstand
- Geschlechterforschung entwickelte sich aus Frauenforschung der 1970er/ 80er Jahre
- Im Laufe der 1990er Jahre: Etablierung der Gender Studies bzw. Geschlechterforschung als
interdisziplinäre Forschungsrichtung
- Dreh- & Angelpunkt (forschungs-)theoretischer Auseinandersetzung ist Konstitution von und
Verhältnis zwischen Sex und Gender
Sex und Gender
- Sex = biologisches Geschlecht (z.B. Anatomie, Hormone)
- Gender = soz. Geschlecht (z.B. Rollen, die als eine sozio-kuturell Überformung von Sex
angenommen werden (Doing Gender), eigene Geschlechtsidentität)
- Können übereinstimmen, müssen es aber nicht!
- Feministische Diskurs griff diese Unterscheidung auf: begriff sie in einem antibiologistischen
Sinne: soz. Ungleichheiten wurden nicht auf biologisch-körperliche Unterschiede
zurückgeführt, wie es die Theorien und Alltagsannahmen über „Geschlechtscharaktere“,
über die „Natur“ oder über das „Wesen“ von Frauen und Männern postulierten, sondern auf
das kulturelle Geschlecht und die Organisation der Gesellschaft
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