Europarecht
Grundlagen:
- Primärrecht = Vertragsrecht (EUV und AEUV) samt Anhängen, Protokollen,
Ergänzungen und Änderungen; Grundrechte-Charta (Art. 6 EUV); ungeschriebenes
Primärrecht (z.B. Rückwirkungsverbot, Bestimmtheitsgebot, Verhältnismäßigkeitsprinzip
(vgl. Art 2 EUV)).
- Sekundärrecht (Art. 288 AEUV) = Verordnungen (Art. 288 II), Richtlinien (Art. 288 III),
Beschlüsse (Art. 288 IV), Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 288 V)
Verordnung = Allgemeine Wirkung in allen Teilen verbindlich und gilt in jedem
MS ohne dass es einer Umsetzung bedarf
Richtlinie = Für jeden MS hinsichtlich des erreichenden Zieles verbindlich, überlässt
jedoch der Umsetzung (Transformation) den einzelnen MS die Wahl der Form und
Mittel (Umsetzungsspielraum) Arg.: Anpassung an das jeweilige nationale Recht
Beschlüsse = Sind in allen ihren Teilen verbindlich (Auferlegung von Rechten und
Pflichten). Sollten sie nur an bestimmte Adressaten gerichtet sein, so gelten sie
auch nur ihnen gegenüber (größerer Personenreis im Umkehrschluss aber möglich).
Kollision zwischen Unionsrecht und nationalem Recht
EuGH: Es gilt uneingeschränkter BVerfG: Es ist im Ergebnis zwar von
Anwendungsvorrang des Unionsrecht einem Anwendungsvorrang auszugehen,
(Costa/ENEL) allerdings muss differenziert werden (s.
Fallgruppen) relativer
Argumente: Anwendungsvorrang
- Eigenständigkeit des Unionsrechts, da
Kompetenzübertragung durch Argumente:
Mitgliedstaaten EU-Recht ist eine - Das EU-Recht ist nur eine aus dem
autonome Rechtsquelle mitgliedstaatlichen Recht abgeleitete,
- Zur Erreichung der europäischen auf einer sachlich begrenzten
Einigung ist einheitliche Anwendung überstaatlichen Autonomie gründende
des Unionsrechts unerlässlich Rechtsordnung
- Funktionsfähigkeit der Union kann nur - Der Anwendungsvorrang wirkt nicht
so wirkungsvoll erreicht werden absolut, sondern nur im Rahmen der
verfassungsrechtlichen Ermächtigung
der deutsche Gesetzgeber kann durch
ein Zustimmungsgesetz gem. Art. 23 I 2
GG den Anwendungsvorrang nur
insoweit anordnen, als ihm dies durch
die Verfassung erlaubt ist.
BVerfG nimmt somit aufgrund der
jeweiligen Kollisionslage eine
, differenzierte Betrachtungsweise vor
Fall 1: Kollision von primärem oder sekundärem Unionsrecht mit einfachen nationalen
Gesetzen
Ausgangspunkt: uneingeschränkter Anwendungsvorrang des Unionsrechts
Argumente:
- „Übertragung“ von Hoheitsbefugnisse nach Art. 23 I 2 GG
- Wegen des damit einhergehenden „Rechtsanwendungsbefehls“ geht das gesamte
Unionsrecht den kollidierenden nationalen Gesetzen einfachen Rangs vor.
Folge:
- Verwaltung und Gerichte („Rechtsanwender“) haben diesen Anwendungsvorrang zu
beachten und die nationale Norm im Kollisionsfall nicht anzuwenden
- Ein Gericht muss auch keine Normenkontrolle gem. Art. 100 I GG einleiten Würde ein
innerstaatliches Vorlageverfahren akzeptiert, so würde die Anwendung der
unionsrechtlichen Normen zumindest noch zusätzlich hinausgeschoben
- Auch das BVerfG wäre, wollte es über diese Frage entscheiden, gem. Art. 267 III AEUV
zur Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet An die Entscheidung des Gerichtshofs
wäre aber auch das nationale Verfassungsgericht gebunden. Seine Rolle wäre deshalb nur
rein formal
Beispiel: Die in den Niederlanden ansässige Doc Morris NV (D), eine AG niederländischen
Rechts, betreibt in den Niederlanden seit Jahren eine Apothekenfilialkette. Wegen der
steigenden Zuwachsraten beabsichtigt die Geschäftsleitung die Eröffnung einer Filiale in
Stuttgart. D beantragt bei der zuständigen Behörde die Erlaubnis zum Betrieb einer
Apotheke. Diese wird allerdings unter Verweis auf §§ 2, 7, 8 ApoG abgelehnt. Danach könne
nur eine natürliche Person eine Apotheke betreiben. Juristische Personen sei dies generell
verwehrt.
Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhebt D Klage zum zuständigen VG wegen eines
Verstoßes gegen Art. 49 AEUV. Dem Richter ist nicht klar, welches Recht er anzuwenden
habe und was im Kollisionsfalle zu tun sei. (Doc Morris II)
Lösung:
- Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Erlaubnis nach Apothekenrecht?
Hier: Keine Genehmigungsfähigkeit wegen des Fremdbesitzverbotes nach §§ 2, 7, 8
ApoG
,- (P) Korrektur wegen Unionsrecht?
Verstoß gegen Art. 49 AEUV (= Niederlassungsfreiheit)? unmittelbar anwendbar
Hier: Das Mehr- und Fremdbesitzbesitzverbot des deutschen Apothekengesetzes ist
eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, da Nichtapotheker und
Aktiengesellschaften damit vom Wettbewerb ausgeschlossen werden.
Schwerpunkt: Rechtfertigung nach Art. 52 AEUV? (beides vertretbar)
EuGH: In den mit dem Fremdbesitzverbot verfolgten Gemeinwohlinteressen ist eine
zulässige Beschränkung in die Niederlassungsfreiheit zu sehen.
Argument: Die Beschränkung ist sachlich gerechtfertigt um die qualitativ
hochwertige Arzneimittelversorgung der Bevölkerung in der Bundesrepublik
Deutschland sicherzustellen.
Fall 2: Kollision von Verordnungen der Union (Art. 288 II AEUV) mit deutschem
Verfassungsrecht
Grundsatz: keine Überprüfung durch das BVerfG am Maßstab des Grundgesetzes
Ausnahme: Kontrollbefugnis des BVerfG (Reservekompetenz):
- Solange-Rspr.
Solange der Gerichtshof Grundrechtsschutz gewährt, übt das BVerfG seine
Prüfungskompetenz nicht aus.
Prüfungskompetenz des BVerfG bei qualifizierter Verfassungswidrigkeit: (+),
sofern der EuGH offensichtlich, gravierend und auf Dauer (d.h. generell, also nicht
nur im Einzelfall von seiner bisherigen Rechtsprechung abweicht
- Ultra-vires-Kontrolle = ausbrechender Rechtsakt (Lissabon-Urteil)
Prüfungskompetenz des BVerfG (+), sofern ernstliche Kompetenzüberschreitung
entgegen Art. 5 I 1, II EuV (= Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung)
Voraussetzungen:
Kompetenzverstoß ist hinreichend qualifiziert, d.h. offensichtlich von
maßgeblicher Auswirkung auf Kompetenzgefüge (kein bloßer Einzelfall)
Vorherige Vorabentscheidungsverfahren (Möglichkeit der Korrektur durch
EuGH, der grds. zuständig)
- Identitätskontrolle = Art. 23 I 3, 79 III GG
Prüfungskompetenz des BVerfG (+), sofern die Verfassung (samt Grundrechte, Art.
20 III GG) in ihrem Kernbereich beeinträchtigt wird
, Beispiel: Die deutsche Zigarettenfabrikantin Z-AG möchte sich gegen eine Verordnung der
Union wehren, die vorsieht, dass auf den in der Union verkauften Zigarettenpackungen
neben Warnhinweisen auch Schockbilder (krebsbefallene Lungen, faulende Raucherbeine
etc.) abgedruckt sein müssen. Seit dem Inkrafttreten dieser Verordnung ist der Umsatz der Z-
AG um 20 % zurückgegangen. Die Z-AG sieht sich in ihren Grundrechten aus Art. 12 I und
14 I GG verletzt und legt eine Verfassungsbeschwerde ein.
Ist die VB zulässig?
Lösung:
- Z-AG über Art. 19 III GG beschwerdeberechtigt
- Beschwerdegegenstand der VB
„jeder Akt öffentlicher Gewalt“?
Frühere Rspr.: Nur Akte der deutschen Staatsgewalt Argument: Hinsichtlich des
Unionsrecht ging das BVerfG dementsprechend davon aus, dass erst durch den
Vollzug von Unionsrecht durch nationale Behörden ein Akt öffentlicher Gewalt
geschaffen war.
Maastricht-Urteil (BVerfG neue): allein ausschlaggebend ist, dass Hoheitsakte
Wirkung im deutschen Rechtsraum entfalten. Damit sind auch Unionsrechtsakte,
sofern sie unmittelbar innerstaatlich gelten, Akte der öffentlichen Gewalt i.S.d. Art.
93 I Nr. 4a GG.
Hier: Eine VO gilt gem. Art. 288 II AEUV unmittelbar in jedem MS und ist damit ein
Akt öffentlicher Gewalt
(P) Prüfungsmaßstab?
Möglicherweise wird aufgrund des Rangverhältnisses die Rechtmäßigkeit eines
Unionsrechtsaktes, der dem nationalen Recht vorgeht, gar nicht am Ma0stab des GG
überprüft. Fraglich ist daher, ob dieser Vorrang schrankenlos ist.
EuGH: Das Europarecht jeden Ranges geht dem nationalen Recht vor. Damit ist
jeder Kollisionsfall gelöst, Unionsrecht darf nicht am Grundgesetz überprüft werden.
BVerfG: Erst wenn der AS ausführlich darlegt, dass der Mindeststandard des
Grundrechtsschutzes vom Gerichtshof nicht mehr gewährleistet wird (Solange II-
Entscheidung), ein Fall eines ausbrechenden Rechtsaktes vorliegt (ultra-vires-
Kontrolle) oder die Ewigkeitsgarantie des GG verletzt ist, ist der Prüfungsmaßstab
des GG für das BVerfG eröffnet
Hier: Dies wird dem AS im Fall nicht gelingen Konsequenz: VB unzulässig
Zusatzfrage: