Soziologie
Lektion 1: Die Anfänge des soziologischen Denkens
1.1 Individualisierung .............................................................................................................................. 1
1.1.1 Feudalgesellschaft ...................................................................................................................... 1
1.1.2 Meilensteine der Individualisierung ........................................................................................... 2
1.1.3 Aufklärung .................................................................................................................................. 2
1.2 Industriearbeit ................................................................................................................................... 2
1.2.1 Industrielle Revolution ............................................................................................................... 2
1.2.2 Gesellschaftliche Auswirkungen ................................................................................................. 3
1.2.3 Politische Auswirkungen ............................................................................................................ 4
1.3 Großstadtleben.................................................................................................................................. 4
1.3.1 Eigenschaften und Besonderheiten des Großstadtlebens ......................................................... 4
1.4 Nationalstaaten ................................................................................................................................. 5
1.4.1 Drei Paradoxe von Nationalstaaten nach Benedict Anderson ................................................... 5
1.4.2 Weitere Zusammenhänge .......................................................................................................... 6
Soziologie ist nach Schäfer „die Wissenschaft vom Sozialen, d.h. den verschiedenen Formen der
Vergemeinschaftung (z.B. Familie, Verwandtschaft, Sippe, Nachbarschaft, soziale Gruppe) und der
Vergesellschaftung (z.B. Organisation, Gesellschaft, Staat) der Menschen; sie fragt nach den
Strukturen des sozialen Handelns und der sozialen Gebilde und welchem sozialen Wandel diese
unterliegen. Die Soziologie ist eine empirische Sozialwissenschaft.“
1.1 Individualisierung
Die Loslösung des Individuums von seinen traditionellen Bindungen ist ein Prozess, der seit dem
Ende des Mittelalters bis heute andauert. Das Individuum wird zum zentralen Bezugspunkt für sich
selbst und die Gesellschaft. Mit einer Entscheidung werden zukünftige Handlungsoptionen
begrenzt.
Es wird erwartet, dass man sich lebenslang weiterbildet.
1.1.1 Feudalgesellschaft
In der Feudalgesellschaft waren die Lebensgeschichten der Menschen vorhersehbar,
die Gesellschaftsordnung war starr – daran war nichts oder nur sehr wenig zu ändern. Stabile
1
,Gesellschaftsordnungen und moderne Nationalstaaten entwickelten sich durch gewaltsame und
revolutionäre Umwälzungen der feudalen Gesellschaftsordnungen.
1.1.2 Meilensteine der Individualisierung
Meilensteine der Individualisierung sind Innovationen, die am Anfang der Neuzeit stehen.
Der Buchdruck 1440 machte den Autor eines Buches eindeutig identifizierbar. Handschriftlich
kopierte Bücher waren meist Gemeinschaftsproduktionen. In dieser Zeit etablierte sich das
künstlerische Genre des Selbstportraits, z.B. durch Albrecht Dürer 1484.
Die Reformation 1517 hob das Individuum aus der Gemeinschaft der Christen heraus. In der
Literatur kam die Gattung Autobiografie als Reflexion der individuellen Lebensgeschichte hinzu, z.B.
in den Essays von Michel de Montaigne 1580 oder das Tagebuch als literarische Form ab dem 16.
Jahrhundert.
1.1.3 Aufklärung
Rousseau formulierte 1762 in seiner Abhandlung „Der Gesellschaftsvertrag“ folgenden Satz:
„Der Mensch wird frei geboren und überall liegt er in Ketten.“
Kant forderte mit seinem Wahlspruch der Aufklärung 1784 die Freiheit des Subjektes: „Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ Dies stellt eine Absage an kirchliche und
feudalherrschaftliche Bevormundung und eine Forderung nach der Eigenverantwortlichkeit des
Subjektes dar.
1.2 Industriearbeit
Mit Aufbrechen der Feudalgesellschaft und Aufkommen der Industriearbeit war der Arbeiter doppelt
frei: Frei, da er keinem Landesherrn mehr zu Diensten verpflichtet war und gleichzeitig auch frei zu
verhungern.
1.2.1 Industrielle Revolution
In der industriellen Revolution spielen sehr langfristige Prozesse eine Rolle. Sie kann nicht
ausschließlich auf das 18./19. Jahrhundert datiert werden. Einige Erfindungen zwischen 1200 und
1500 brachen wesentlich deutlicher mit bisherigen Techniken, als es einige Erfindungen
des 19. Jahrhunderts taten.
2
,Schübe der Innovation auf dem Weg zur industriellen Gesellschaft:
Spätes 18. bis frühes 19. Ende 19. bis frühes 20.
1200 bis 1500
Jahrhundert Jahrhundert
Trittwebstuhl Textilindustrie Verbrennungsmotor
Spinnrad Dampfmaschine Chemie
Wasser- und Windmotoren Eisenbahn Elektrizität
Nockenwelle Werkbank Auto
Hochöfen Gusseisen Fließband
Neue Schiffsbautechniken Webstuhl Stahl
Chronometer Selfaktor
Buchdruck
1.2.2 Gesellschaftliche Auswirkungen
Maschinen erleichterten die Arbeit und es kam zu einer Verbilligung der Arbeitskraft durch
spezifische Arbeitsteilung. Einfache und sich wiederholende Arbeitsschritte konnten von ungelernten
Kräften und Kindern ausgeführt werden. Physische Folgen von monotoner Arbeit wurden spürbar.
Der Arbeiter wurde von den Produktionsmitteln, dem Produkt seiner Arbeit und den eigenen
produktiven Fähigkeiten getrennt. Es fand eine Trennung zwischen Arbeit als einfacher Verrichtung
und lebensnotwendiger Verrichtung auf der einen Seite und Arbeit als Erfüllung und dem zu
schaffenden Werk, auf das man stolz sein kann, statt.
Es bildete sich die Klasse der Industrieproletarier heraus - die Arbeiterklasse in Großstädten.
Industriearbeit war nicht nur eine begrenzte Lebensphase, sondern wandelte sich zu einem
identitätsstiftenden Berufsbild, das über Generationen hinweg weitergegeben wurde
(Mikl-Horke 2007).
3
,1.2.3 Politische Auswirkungen
Die Frage nach einem Arbeiterbewusstsein (Nehmen sich Arbeiter selbst als „Klasse“ war? Wie kann
man Arbeit humaner gestalten? Welche Aufstiegschancen sollen der Arbeiterschaft ermöglicht
werden?) bestimmt seit dem Kaiserreich bis heute die Politik – von der Bismarckschen
Sozialgesetzgebung bis zur Debatte um den Mindestlohn.
Nach Lessenich (2015) ist einer epidemiologischen Studie zufolge ein Faktor für das Wohlergehen
von Gesellschaften der Faktor Gleichheit. In einer Gesellschaft, in der die Einkommen relativ gleich
verteilt sind, lebt es sich besser.
Nach Vogel (2016) sind viele Angehörige der heutigen Mittelschicht soziale Aufsteiger und haben
Ängste, den Status der Elterngeneration zu verlieren, obwohl diese Ängste vor allem für Angehörige
wissenschaftlich-technischer Berufe eher unbegründet sind.
1.3 Großstadtleben
Laut Zimmermann (1996) entstanden ab dem 19. Jahrhundert moderne Großstädte/Metropolen – in
Preußen ab 1840 im Zuge der Industrialisierung. Die industrielle Urbanisierung setzte in Deutschland
später als in den meisten (west-)europäischen Ländern ein. Zwischen 1870 und 1930 wuchs der in
Großstädten lebende Bevölkerungsanteil von 4,8% auf 21,3% an.
Push-Faktoren (in die Stadt) waren hohe soziale Kontrolle auf dem Land sowie Armut und
anstrengende Landarbeit. Pull-Faktoren waren die Aussichten auf ein besseres Arbeitsangebot mit
höherer Entlohnung sowie die Anziehungskraft eines umfangreicheren Freizeitangebotes und
Individualisierungschancen in der Stadt.
1.3.1 Eigenschaften und Besonderheiten des Großstadtlebens
Damals wie heute wird von Kritikern die Großstadt als Ort der Anonymität und Entfremdung
bezeichnet: Großstadtleben mache durch das beschleunigte Leben und die vielen Eindrücke
„nervös“, hohe Kriminalität und Umweltverschmutzung sind Argumente. Gleichzeitig war und ist
Großstadt ein Sehnsuchtsort, der mit vielen Kultur- und Freizeitangeboten und damit neuen
Interaktionschancen lockt.
Georg Simmel beschreibt in seinem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1903) die
besonderen Ansprüche an das Nervenleben des Großstädters auf Grund der Vielzahl von
Eindrücken. Dies gehe mit Individualisierung und kühler Rationalität einher.
Nach Soziologe Ilja Srubar (1992) ist die Soziologie selbst ein Großstadtkind.
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, 1.4 Nationalstaaten
Nach Hobsbawm (1991) ist der Begriff „Nation“ nicht älter als das 18. Jahrhundert. Nationalstaaten
geben sich Traditionen, die zum Teil bis in die Antike zurückreichen, jedoch ein modernes Phänomen
sind. Europäische Nationalstaaten wie Deutschland oder Italien haben eine kurze Geschichte: Mit der
Gründung des Deutschen Reiches unter Preußischer Führung 1871 kann man erstmals von einem
deutschen Nationalstaat sprechen – die nationale Einigung Italiens ist ebenfalls in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts nach einer Reihe von „Einigungskriegen“ zu verorten.
1.4.1 Drei Paradoxe von Nationalstaaten nach Benedict Anderson
1. Nationalstaaten sind historisch modern. Aus Sicht der Nationalisten sind sie alt.
2. Nationalität ist eine selbstverständlich erscheinende Kategorie, aber in fast jedem Fall gibt es
Ausnahmen. Im Fall von „Nationalstaaten sind historisch gewachsene Gemeinschaften mit
gemeinsamer Sprache, Kultur und Wirtschaftsleben“: Die Schweiz hat vier Sprachen, aber
nicht jeder Schweizer ist mehrsprachig. Kultur kann innerhalb einer Nation vielschichtig sein
– welche kulturellen Gemeinsamkeiten haben Bayern und Norddeutsche?
3. Nationalismus ist ein einflussreiches politisches Konzept, philosophisch aber verarmt:
Anders als viele andere politische Strömungen der Moderne hat der Nationalismus keine
großen Denker hervorgebracht.
Nach Anderson sind Nationalstaaten „imaginierte Gemeinschaften“ („imagined communities“):
Nationalstaaten sind imaginierte politische Gemeinschaften, vorgestellt als begrenzt und souverän.
Alle Gemeinschaften, die größer sind als kleine Dörfer, sind imaginiert. Die Einwohner eines
Nationalstaates haben die Vorstellung, untereinander auf komplexe Art und Weise verbunden zu
sein.
Anderson weist darauf hin, dass der Nationalstaat an die Stelle der alten Erklärungsmodelle für die
Fragen des Lebens oder gesellschaftliche Phänomene, etwa die Legitimierung der weltlichen
Herrschaft oder dem Sinn des Lebens, gerückt ist. Dies geht auch mit dem Bedeutungsverlust der
Kirche einher: Als relativ junges Deutungsangebot ist der Nationalismus vergleichsweise religiös
aufgeladen – die Zugehörigkeit zum Nationalstaat trägt „schicksalhafte“ Züge.
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