Medizin für Nichtmediziner I
Lektion 1: Grundlagen der Medizin
Die moderne Medizin ist aus der griechischen und römischen Heilkunst der Antike entstanden.
Sie wurde maßgeblich durch Hippokrates von Kos (4. und 5. Jh. v. Chr.) und Galenos von Pergamon
(130 – 200 n. Chr.) beeinflusst. Die Epoche der Aufklärung, die industrielle Revolution,
die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts und die immer stärkere Verzahnung mit der
Naturwissenschaft führen zu einem komplexen Selbstverständnis der Medizin als wissenschaftliche
Disziplin.
Krankheiten vorherzusehen, zu erkennen, zu heilen und zu vermeiden und dabei unter
Berücksichtigung ethischer Richtlinien den Patienten als eigenständigen, selbstbestimmten
Menschen zu behandeln, ist die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts.
1.1 Gesundheit, Krankheit, Medizin und Pflege
1.1.1 Gesundheit
Die Bestimmung des Gesundheitszustandes hängt nicht nur von objektiven Bestimmungsmethoden,
sondern auch vom subjektiven Empfinden des Patienten ab (Maio 2017). Der Begriff Gesundheit
wird nach sozialen Normvorstellungen interpretiert, d.h. ein körperlicher oder geistiger Zustand
kann in einer Gesellschaft nur dann als Abweichung von der Norm erkannt werden, wenn er zu einer
Beeinträchtigung der Funktion führt – bei Mitgliedern einer schriftlosen Gesellschaft ist Legasthenie
als biologischer Zustand vorhanden, er wird aber nicht als Krankheit erkannt (Maio 2017).
In einer weiteren Deutung wird Gesundheit als Gleichgewicht, ein Zustand der persönlichen
Erfahrung (des Sich-Wohlfühlens) und als Widerstandspotenzial des Individuums gegenüber
äußeren, krank machenden Faktoren interpretiert (Oldenburger 2015).
Nach der Definition der WHO ist Gesundheit ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und
sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheiten.
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,1.1.2 Krankheit
Der Begriff Krankheit hat (1.) naturwissenschaftliche (biostatische), (2.) soziokulturelle und
(3.) subjektive Komponenten.
1. Krankheit ist als biologische Veränderung des Organismus erkennbar und bestimmbar,
sofern die entsprechende Messmethode verfügbar und sensitiv genug ist.
2. Das Verständnis einer Krankheit bzw. einer krankhaften Störung ist von der Gesellschaft
geprägt – es kann sich im Laufe der Zeit ändern.
3. Die subjektive Komponente ergibt sich aus der inneren Wahrnehmung des Menschen. Es
wird von einer Störung oder „Reduktion der Toleranzbreite gegenüber der Unverlässlichkeit
der Umwelt“ (Canguilhem 1975) gesprochen – ein Mensch wird krank, wenn er die Fähigkeit
verliert, sich gegen äußere Einflüsse zu wehren, um sein Gleichgewicht des Sich-Wohlfühlens
aufrechtzuerhalten (Maio 2017).
1.1.3 Medizin und Pflege
Die Medizin dient dazu, Krankheiten vorzubeugen, zu erkennen und zu heilen.
Pflege ist die stellvertretende Sorge für die lebensnotwendige Selbstsorge des Patienten
– sie übernimmt Aufgaben, die Kranke nicht mehr verrichten können. Die Definition professioneller
Pflege nach dem International Council of Nurses (ICN) ist folgende:
„Pflege umfasst die eigenverantwortliche Versorgung und Betreuung, allein oder in Kooperation mit
anderen Berufsangehörigen, von Menschen aller Altersgruppen, von Familien oder
Lebensgemeinschaften, sowie von Gruppen und sozialen Gemeinschaften, ob krank oder gesund,
in allen Lebenssituationen. Pflege schließt die Förderung der Gesundheit, Verhütung von Krankheiten
und die Versorgung und Betreuung kranker, behinderter und sterbender Menschen ein“
(Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe 2014).
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,1.2 Geschichte der medizinischen Heilbehandlung
Die Entwicklung der medizinischen Heilbehandlung lässt sich nach Epochen der kulturellen und
gesellschaftlichen Entwicklung einteilen und ist Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes und des
wissenschaftlichen Denkens.
Epoche Lehre und Konzept
5. Jh. v. Chr. – 4. Jh. n. Chr. Hippokratische Medizin: erstmalige Entwicklung eines
rationalen, wissenschaftlichen Konzepts, weg von der
Antike bis frühes Mittelalter Lehre des göttlichen Einflusses
4. – 17. Jh.
Konzept der Humoralpathologie vorrangig gültig
Frühes Mittelalter bis Aufklärung
17. – 19. Jh. Infragestellung des Althergebrachten und Entwicklung
Aufklärung bis industrielle Revolution der experimentellen Medizin
20. – 21. Jh. Von der rein naturwissenschaftlich geprägten Lehre zur
Moderne Medizin ganzheitlichen Heilbehandlung
1.2.1 Die hippokratische Medizin
Hippokrates von Kos (ca. 460 – 375 v. Chr.) verfasste das aus ca. 60 Einzelschriften bestehende
medizinische Sammelwerk „Corpus Hippocratum“. Das Werk beschreibt die vier bedeutsamsten
Elemente ärztlichen Handelns, die bis heute gültig sind:
Differenzierte Beobachtung mit Betrachtung der Krankengeschichte, Lebensumstände und
klimatischen Bedingungen
Einbeziehung überlieferter Empirie (empeiria (alt-griechisch): Erfahrung)
Prognosestellung unter ätiologischen Gesichtspunkten (ursachenabhängig)
Therapeutisches Handeln durch diätetische, medikamentöse und/oder chirurgische
Maßnahmen
Die Summe der Einzelelemente ergibt ärztliche Kunst.
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,1.2.1.1 Der hippokratische Eid
Die bekannteste Passage des „Corpus Hippocratum“ ist der Hippokratische Eid – diese
Gelöbnisformel ist bis heute Grundlage ethischen Verhaltens in der Medizin. Sie enthält neben
ethischen Gesichtspunkten auch altgriechische religiöse Elemente. Die wesentlichen ethischen
Aspekte des Eides sind folgende:
Das Patientenwohl hat Vorrang vor allem.
Es existiert ein ärztliches Tötungsverbot.
Es existiert eine Anerkennung der Grenzen ärztlichen Handelns.
Die personale Integrität des Patienten wird beachtet.
1.2.1.2 Die Entwicklung der Humoralpathologie
Mit Beginn der hippokratischen Medizin entwickelte sich auch das Konzept der Humoralpathologie.
Die Humoralpathologie (Viersäftelehre (humores (lateinisch): Säfte, Flüssigkeiten) basiert auf der
These, dass der Mensch als Mikrokosmos der Umwelt als Makrokosmos gegenübersteht. Die
Umwelt wurde in die vier Elemente Luft, Feuer, Wasser und Erde eingeteilt – deren Spiegelung findet
sich in den vier Körpersäften des Menschen wieder:
Blut Herz Luft
Gelbe Galle Leber Feuer
Schleim Gehirn Wasser
Schwarze Galle Milz Erde
Die vier Elemente befinden sich bei einem gesunden Menschen im Gleichgewicht mit sich und der
Umwelt. Eine Erkrankung ist auf ein gestörtes Gleichgewicht der Körpersäfte mit der Umwelt
zurückzuführen (Maio 2017). Dem Menschen wurde ein großes Bedürfnis nach Wiederherstellung
der Harmonie zugeschrieben. Gemeinsamkeiten der Humoralpathologie mit der hippokratischen
Anschauung waren die Bedeutung der Beobachtung des Patienten, seiner Umwelt und der
therapeutischen Maßnahmen.
Der römische Arzt Galen von Pergamon (130 – 200 n. Chr.) wurde zum Begründer einer
medizinischen Tradition, die bis in die frühe Neuzeit Bestand hatte – er entwickelte das Schröpfen,
das Abführen,
das Herbeiführen des Erbrechens, das Niesenlassen und den Aderlass und setzte medikamentöse
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, Heilkräuter und chirurgische Eingriffe zur Wiederherstellung des Gleichgewichts
(Eukrasie; Ungleichgewicht: Dyskrasie) ein.
1.2.2 Mittelalter und Beginn der Neuzeit
Im frühen und späten Mittelalter beeinflusste das Konzept der Humoralpathologie medizinische
Heilbehandlungen. Durch Überlegungen des englischen Philosophen Francis Bacon (1561 – 1626) zur
Notwendigkeit empirischer Experimente in der naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung und
den ersten physiologischen Forschungen zum großen Blutkreislauf von William Harvey (1578 –
1657), entwickelte sich eine naturwissenschaftlich orientierte, auf Empirie basierende Medizin.
1.2.3 Die Medizin im Zeitalter der industriellen Revolution bis zum ersten Weltkrieg
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden die Epidemiologie (Seuchenlehre) und das Impfwesen
(Einführung der Pockenimpfung) weiterentwickelt sowie die Idee der staatlichen
Gesundheitsfürsorge geboren. In Deutschland entstand 1727 auf Anordnung Friedrich Wilhelm I.
(preußischer König von 1713 – 1740) die Berliner Charité, weitere Krankenhäuser modernen Typs
entstanden in London (1725) und Stockholm (1749) – das besondere an modernen Krankenhäusern
war, dass sie verschiedene Abteilungen der unterschiedlichen Fachrichtungen beherbergten
(Chirurgie, Innere Medizin, Geburtshilfe) und der große Krankensaal vielen kleineren Krankensälen
wich. In Universitätsstädten dienten sie zusätzlich der Ausbildung von Medizinstudenten (Eckart
2017).
Der Berliner Arzt Rudolf Virchow (1821 – 1902) postulierte ausgehend von Forschungsergebnissen
aus der Pflanzen- und Tierphysiologie (Schleiden (Botaniker), Schwann (Physiologie) und Purkinje
(Physiologe)), dass die Zelle die kleinste Grundeinheit eines tierischen Organismus ist und dass alle
Erkrankungen auf krankhafte Veränderungen der Zellen zurückzuführen sind. Außerdem postulierte
er „Wo eine Zelle entsteht, da muss eine Zelle vorausgegangen sein“ (1858) – dies war das endgültige
Ende der Diskussion um die Gültigkeit der Humoralpathologie (Eckart 2017).
Zur gleichen Zeit entwickelte sich die Bakteriologie mit ihren Vertretern Luis Pasteur (1822 – 1885,
fundamentale Entdeckungen der biochemischen Prozesse von Mikroorganismen) und Robert Koch
1843 – 1910). Koch wies erstmals Erreger der Tuberkulose, des Milzbrandes und der Cholera in
erkrankten Geweben und in Reinzüchtungen nach. Zu den Erregerpostulaten gehören:
Mikroskopische Nachweisbarkeit der Erreger
Eindeutige Identifizierbarkeit und Isolierbarkeit
Züchtung einer Reinkultur
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