1. Psychologische Diagnostik
Definition:
- Lehre von der sachgemäßen Ermittlung eines psychologisch begründeten Urteils, mit dem
Entscheidungen und erforderliche Handlungen legitimiert werden
- systematisches Sammeln und Aufbereiten von Informationen, die für Beschreibung, Erklärung und
Vorhersage menschlichen Erlebens und Verhaltens bedeutsam sind, mit dem Ziel, Entscheidungen und
daraus resultierende Handlungen zu begründen, zu kontrollieren und zu optimieren
- sowohl Disziplin der Psychologie als auch Prozess, der zu einer durch diagnostische
Erhebungsverfahren fundierten Entscheidungsfindung führt
- dient der Informationsgewinnung bezogen auf bestimmte psychologisch relevante Merkmale
- auch Datengewinnung häufig als psychologische Diagnostik bezeichnet
Anwendungsfelder:
- Wirtschaft (A&O-Psychologie) Berufseignungsdiagnostik, Personalauswahl
- Bildung (Pädagogische) Leistungs- und Begabungsdiagnostik
- Gesundheit (Klinische) Entwicklungsdiagnostik, klinisch-psycholog. Diagnostik
- Recht (Forensische und Verkehrspsychologie)
Themenbereiche nach Kubinger:
- Ausbildungs- und berufsbezogene Eignungsdiagnostik
- Ausbildungs- und berufsbezogene Rehabilitationsdiagnostik
- Entwicklungsdiagnostik im frühen Kindesalter
- Forensisch-psychologische bzw. rechtspsychologische Diagnostik
- Neuropsychologische Diagnostik
- Gerontopsychologische Diagnostik
- Klinisch-psychologische Diagnostik
Ziele & Aufgaben der diagnostischen Datenerhebung: Klassifikation – Selektion
Klassifikation = Zuordnung von Personen zu alternativen Merkmalsklassen, für jede Person erfolgt individuell
passende Einordnung
- Dient in der Regel der Beschreibung (Typisierung) einer Person
- In klinischer Psychologie verwendet, um psychische Störungen zu kennzeichnen
- Klassifikation basiert auf (empirisch) abgesichertem Ordnungssystem
Platzierungsentscheidungen = Sonderform der Klassifikation
- Personen werden nur auf einer Dimension gruppiert, z.B. auf Basis eines Testwerts in eine Rangreihe
gebracht
- Pädagogischer Bereich: für Platzierung innere Differenzierung innerhalb einer Klasse angeführt
Selektion = Auswahlstrategie, bei der sehr häufig institutionelle Interessen im Vordergrund stehen
- Eine Person wird aufgrund best. Persönlichkeitsmerkmale aus einer Menge ausgewählt und einer
Maßnahme/Position zugeordnet bzw. es wird für best. Anforderungen geeignete Person gesucht
- Es besteht Möglichkeit der Ablehnung einer Person als Ergebnis einer diagnostischen Entscheidung
- Häufig in der Personalauswahl eingesetzt (=Personenselektion)
Ziele der Psychologischen Diagnostik (K. Pawlik)
- Statusdiagnostik: Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik dient in erster Linie Selektionszwecken
Beschränkung dieser Eigenschaftsdiagnostik auf Bewertung des aktuellen Status einer Person
- Prozessdiagnostik: Ziel ist Modifikation von Personen (ggf. auch von Lebensumständen), ob und in
welchem Umfang können eine Person und/oder soziale Verhältnisse durch Intervention modifiziert
werden
- Normorientierte Diagnostik: Aussagen der psycholog. Diagnostik können zur Entscheidungsfindung
herangezogen werden, wenn sie Empfehlungen formulieren, die auf Skala als Maßeinheit dient
statistische Norm, die auf einer empirisch gestützten Verteilung einer Merkmalsausprägung beruht
Bsp. Testverfahren soll Patient mit Normstichprobe vergleichen
- Kriteriumsorientierte Diagnostik: statistische Norm beruht auf einem inhaltlich begründeten Kriterium
es wird nicht auf Leistungsnorm Bezug genommen, sondern aufgrund des Lehrziels definiert, bei
welcher Merkmalsausprägung ein Kriterium erfüllt ist und damit von Erfolg gesprochen werden darf
Bsp. Feststellung des Therapieerfolgs anhand vorher festgelegten Kriteriums
- Diagnostik als Inventarisieren: geht nicht um Zuweisung eines Kennwerts, sondern darum, Elemente
eines Verhaltensrepertoires zu sammeln, mit deren Hilfe man Reaktion einer Person beschreiben und
, erklären kann Anzahl der Indikatoren (Kriterien) ergeben dann z.B. Diagnose (Bsp.:
Verhaltenstherapie Angstbehandlung, alle angstauslösenden Reize vollständig erfassen, auflisten +
Angsthierarchie für Pat. Erstellen, die schrittweise mit Therapie bearbeitet werden kann)
- Situationsorientierte Diagnostik: beobachtbares Verhalten hängt von 3 Bedingungen ab: bisher
Gelerntes, spezifische Reizsituation, erwartete Folgen (Bsp.: Erhebung von aggressivem Verhalten bei
Kindern unter Angabe des situationalen Kontexts des Konflikts, auslösende Bedingungen des Konflikts,
aktuelle Befindlichkeit = Ärgerniveau Erklärung von Verhalten)
2. Klassifikation psychologischer Testverfahren
Leistungstests:
- Entwicklungstests: Kind soll anhand beobachtbarer Verhaltensweisen auf Alterskontinuum
lokalisiert werden, Erfassung des Leistungsstands eines umfassenden Verhaltensspektrums
(allgemeine Entwicklungstests), Abbildung einzelner Funktionsbereiche (spezifische Tests, z.B.
Sprach-, Motorik-, Wahrnehmungstests)
- Intelligenztests
- Allgemeine Leistungstests: erheben allgemeine Voraussetzungen der Leistungsfähigkeit
(Aufmerksamkeit, Konzentration, allgemeine Aktiviertheit)
- Schultests: Verfahren, die Frage der Schulfähigkeit direkt betreffen oder Messung des Leistungs-
und Kenntnisstands
- Spezielle Funktionsprüfungs- und Eignungstests: Prüfung spezieller Funktionen (Händigkeit,
Psychomotorik)
Psychometrische Persönlichkeitstests:
- Persönlichkeits-Struktur-Tests: mehrdimensionale Persönlichkeitstests, denen jeweils eigene
Ordnungsgesichtspunkte zugrunde liegen, Messung mehrerer Persönlichkeitseigenschaften ohne
apparativen Aufwand
- Einstellungs- und Interessentests: basieren auf sozialpsychologischen Konzepten, messen
Einstellung zu Sachverhalten oder Meinung über best. Bezugsobjekte
- Klinische Tests: zu differenzialdiagnostischen Zwecken in Psychopathologie und Grenzbereich zur
Normalität, Entscheidungshilfe bei Auswahl von Interventionsmaßnahmen und Therapieformen,
Kontrolle von Verlauf und Erfolg von Therapien
Persönlichkeits-Entfaltungsverfahren:
- Formdeuteverfahren: Deutung von relativ unstrukturiertem, nicht eindeutig erkennbarem
Testmaterial
- Verbal-thematische Verfahren: Erschließung von z.B. dominanten Trieben, Konflikten, Einstellung,
Intelligenz, Gefühle, Leistungsmotivation, Kreativität
- Zeichnerische und Gestaltungsverfahren
3. Absicherung der Aussagekraft diagnostischer Informationen
Multi-Informanten-Ansätze: durch Vergleich und Berechnung der Übereinstimmung verschiedener
Informationsquellen versucht man, zu objektivem Urteil zu kommen
Multi-Methoden-Ansätze: Bewertung der Belastung des Patienten anhand des Vergleichs von klinischen
Interviews und Verhaltensbeobachtungen
Wiederholte Erhebungen: auf Basis wiederholter Erhebungen Berechnung der Variabilität eines
Merkmals und mittlere Merkmalsausprägung (bietet breitere Informationsbasis, kann in Kombi mit Multi-
Info und/oder Multi-Method durchgeführt werden)
Nutzung von Informationen von dritter Seite: Absicherung des diagnostischen Urteils durch bereits
vorliegende Informationen (z.B. Polizeiberichte), solche nicht im Kontext eines diagnostischen Prozesses
gewonnene Informationen eröffnen oftmals neue Problemsichten
4. Entwicklungsdiagnostik
Historische Wurzeln:
- Erstellen von Tagebüchern, die die Entwicklung von Säuglingen, Kindern und Jugendlichen
nachzeichnen Tagebuchmethode wieder neu entdeckt als Entwicklungstagebuch zur
Beobachtung und Begleitung in ersten Lebensjahren, Strukturierte und ausführlich dokumentierte
Verhaltensbeobachtungen aus dem Alltag
Entwicklungspsychologische Grundlagen & Modelle:
- Definition: geordnete (regelhafte), gerichtete und längerfristige Veränderung des Erlebens und
Verhaltens über die gesamte Lebensspanne
- Konzept der sensiblen Phasen: innerhalb best. Zeitabschnitte (Zeitfenster) kommt es zu biologisch-
genetisch bedingter Überproduktion von Synapsen, die durch umweltdeterminierte Prozesse
stabilisiert oder wieder reduziert werden, durch Ausbleiben von notwendigen Umweltreizen oder
gestörte Interaktion kann sich Verzögerung oder Störung in best. Entwicklungsbereich ergeben
, - Grenzsteine der Entwicklung: Meilensteinkonzept: es werden Fähigkeiten erfasst, die die
Mehrheit der Kinder einer definierten Altersgruppe bereits beherrschen Orientierung an
typischer, durchschnittlicher Entwicklung
Grenzsteine der Entwicklung: ausschließlich solche Leistungen und Fertigkeiten, die hohe
Relevanz für die ungestörte Entwicklung aufweisen und somit als notwendige Entwicklungsschritte
bewertet werden
zumeist Orientierung an dem Alterszeitpunkt, zu dem 95% aller Kinder diese wichtigen
Entwicklungsschritte absolviert haben
Grenzstein also verknüpft mit Entwicklungsqualität und Zeitpunkt
Verpassen eines Grenzsteins = klinisch bedeutsame Entwicklungsverzögerung mit hohem Risiko
einer auch im Weiteren gestörten Entwicklung
Bühler-Hetzer-Kleinkindertests: Altersspanne vom ersten Lebensmonat bis Ende des 6. Lebensjahres,
alterstypische Verhaltensweisen liegen Tests zugrunde die aus Beobachtungen von Kindern
resultierten
- 6 Entwicklungsdimensionen: Sinnesrezeption, Körperbeherrschung, soziales Lernen, Lernen,
Materialbeherrschung, geistige Produktion
- Erstellung eines grafischen Entwicklungsprofils, das Entwicklungsstand differenziert
veranschaulicht, anhand Leistungen in den Entwicklungsdimensionen
Ziel der Entwicklungsdiagnostik: Feststellung des aktuellen Entwicklungsstandes, entweder bezogen
auf Art der Bewältigung spezifischer Entwicklungsaufgaben oder auf Bewertung des allgemeinen
Entwicklungsstandes
- Diagnostische Untersuchung entspricht Momentaufnahme, aber Entwicklung im Kindesalter weist
hohe interindividuelle Variabilität auf im normalen Entwicklungsverlauf kann es zu
vorübergehenden Rückschritten in den Leistungen einzelner Fähigkeitsbereiche kommen
transitorische Regression / U-förmige Entwicklungsverläufe
- Entwicklungsbereiche bei Entwicklungstests: Körpermotorik, Handmotorik, Wahrnehmung,
Kognitive Entwicklung, Sprachentwicklung, Sozial-emotionale Entwicklung, Lebenspraktische
Fertigkeiten
- Einsatz in Kinder- und Jugendmedizin, Früh- und Sonderpädagogik
5. Konstruktionsmerkmale/Testformen von Entwicklungstests
Stufenleiterverfahren:
- Gehen auf Vorstellung einer hierarchisch-linear strukturierten Entwicklung zurück, Entwicklung ist
weitgehend genetisch gesteuert verläuft in streng zeitlich und hierarchisch geordneten Stufen
- Entwicklung verläuft normal, wenn jeder Entwicklungsschritt zu einem bestimmten Zeitpunkt in
festgelegter Reigenfolge absolviert wird
- Innerhalb eines Entwicklungsbereichs werden Testaufgaben nach der Reihenfolge des
Altersdurchschnitts geordnet Reihenfolge und damit Zeitpunkt des Lebensalters wird in der
Regel danach festgelegt, wann 50% der Kinder der Normstichprobe die jeweiligen Fertigkeiten
zeigen
Nachteile:
- Vielfach nicht belegt, ob die nach dem gemittelten Alterstrend geordnete Aufgabenfolge auch
notwendige Entwicklungsschritte und klinisch aussagekräftige Entwicklungssequenzen darstellen
- Individuelle Entwicklung eines Kindes verläuft innerhalb der Aufgabenfolge häufig hoch variabel,
d.h. Kind weicht in der Reihenfolge des Erwerbs der Fertigkeiten deutlich von Stufenleiter ab
sind kaum geeignet, intra- und interindividuelle Variabilität in der Entwicklung zu berücksichtigen
Testbatterien:
- Werden aus streng homogenen Untertests zusammengestellt, die in ihrer Gesamtheit den
Aussagebereich des Tests ausmachen
- Pro Untertest werden dem Kind gleichartige, in der Regel nach altersspezifischen Schwierigkeiten
angeordnete Aufgaben vorgelegt
Inventare:
- Sind inhaltlich weit gefasste Zusammenstellungen von Testaufgaben, die möglichst umfassend
entwicklungsrelevante Leistungsmerkmale eines Kindes abbilden wollen
können Variabilität normaler Entwicklung besser berücksichtigen als Stufenleiterverfahren
6. Screeningverfahren
Zeitökonomische Kurztests: einzelne Entwicklungsbereiche werden mit wenigen, aber besonders
aussagekräftigen Aufgaben überprüft
Sind kriteriumsorientiert, vergleichen individuelles Testergebnis mit vorab festgelegtem Kriterium
(Leistungs- oder Kompetenzniveau)
Kategorialer Ansatz: beschreiben Vorliegen einer Auffälligkeit