Statistik / Teil III: Wahrscheinlichkeitsrechnung 71
6. Wahrscheinlichkeitsverteilungen
6. Wahrscheinlichkeitsverteilungen
6.1. Wahrscheinlichkeitsverteilung und Verteilungsfunktion
Diskrete und stetige Zufallsvariable
Die Zufallsvariable ist im letzten Kapitel bereits beschrieben worden. Eine Zufallsvariable (häu-
fige Notation: X) fasst alle Ergebnisse eines Zufallsexperiments Ω überschneidungsfrei zu
Ereignissen zusammen und ordnet diesen i.d.R. Werte aus dem Wertebereich W der reellen
Zahlen zu. Analog zu diskreten und stetigen Merkmalen im Rahmen der deskriptiven Statistik
wird auch hier zwischen diskreten und stetigen Zufallsvariablen unterschieden.
Beispiele:
- Augensumme bei zweifachem Würfel-Wurf
- Maximale Augenzahl bei zweifachem Würfel-Wurf
- Anzahl defekter Ventile in einer Stichprobe
- Anzahl der Kunden in der Hotline-Warteschleife der Deutschen Telekom
- Wartezeit eines Kunden in der Hotline der Deutschen Telekom
- Inkubationszeit einer mit COVID-19 infizierten Person
Der Wertebereich einer Zufallsvariablen kann abzählbar oder überabzählbar sein. Bei einem
abzählbaren Wertebereich liegt eine diskrete Zufallsvariable vor, der Wertebereich dieser Zu-
fallsvariablen kann also in aufzählender Weise angegeben werden.
Dies ist dagegen bei einer stetigen Zufallsvariablen nicht möglich, da der Wertbereich nicht
abzählbar (also überabzählbar) ist. Die Zufallsvariable kann also (theoretisch) unendlich viele
Werte (Ausprägungen) der Menge der reellen Zahlen, einer einseitig beschränkten Teilmenge
hiervon oder eines reellen Intervalls annehmen.
Wahrscheinlichkeitsverteilung einer diskreten Zufallsvariablen
Beispiel: Maximale Augenzahl bei zweifachem Würfel-Wurf
Greifen wir einleitend den Bananen-Wettstreit der beiden Herren de Méré und Pascal wie-
der auf. Die Zufallsvariable 'Maximale Augenzahl bei zweifachem Würfel-Wurf' transfor-
miert alle Ergebnisse des Ergebnisraums
Ω = { (1,1) (1,2) (1,3) (1,4) (1,5) (1,6)
(2,1) (2,2) (2,3) (2,4) (2,4) (2,6)
(3,1) (3,2) (3,3) (3,4) (3,4) (3,6)
(4,1) (4,2) (4,3) (4,4) (4,4) (4,6)
(5,1) (5,2) (5,3) (5,4) (5,4) (5,6)
(6,1) (6,2) (6,3) (6,4) (6,4) (6,6) }
überschneidungsfrei in den abzählbaren Wertebereich von 1 bis 6. Es handelt sich folglich
um eine diskrete Zufallsvariable.
,Statistik / Teil III: Wahrscheinlichkeitsrechnung 72
6. Wahrscheinlichkeitsverteilungen
Die Wahrscheinlichkeitsverteilung dieser Zufallsvariablen ergibt sich nun dadurch, dass die-
sen Ausprägungen die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden. Da es sich bei
dem vorliegenden Ergebnisraum um 36 gleichwahrscheinliche Ergebnisse handelt, lassen
sich die Wahrscheinlichkeiten nach Laplace (vgl. Kapitel 5.2.) bestimmen:
P(X = 1) = 1/36 für x = 1; Ergebnismenge = {(1,1)}
P(X = 2) = 3/36 für x = 2; Ergebnismenge = {(1,2), (2,1), (2,2)}
P(X = 3) = 5/36 für x = 3; …
f(x) = P(X = 4) = 7/36 für x = 4
P(X = 5) = 9/36 für x = 5
P(X = 6) = 11/36 für x = 6
0 sonst
Die Wahrscheinlichkeitsfunktion f(x) gibt also an, mit welcher Wahrscheinlichkeit P die Zufalls-
variable X genau den Wert x annimmt.
= P(X x) mit: x ∈ W
f(x) =
0 mit: x ∉ W
Analog zur deskriptiven Statistik lässt sich die Wahrscheinlichkeitsfunktion einer diskreten Zu-
fallsvariablen grafisch als Stabdiagramm darstellen. Die Summe aller Ausprägungen dieser
Wahrscheinlichkeitsfunktion ist dann gleich Eins.
Auch die zugehörige Verteilungsfunktion ist entsprechend definiert. Sie gibt die Wahrschein-
lichkeit an, mit der die Zufallsvariable X höchstens den Wert x erreicht:
F(x) = P(X ≤ x)
Die Verteilungsfunktion ist eine von 0 auf 1 monoton steigende Treppenfunktion. Aus den obi-
gen Festlegungen
X h(x) f(x) F(x)
1 1 0,028 0,028
f(x) = P(X =x) 2 3 0,083 0,111
F(x) = P(X ≤ x) 3 5 0,139 0,250
4 7 0,194 0,444
folgt: 5 9 0,250 0,694
6 11 0,306 1,000
Summe 36 1,000
P(X < x) = F(x) - f(x)
P(X > x) = 1 - F(x) 1
P(X ≥ x) = 1 - P(X < x) = 1 - F(x) + f(x)
0,5
0
bzw. für Doppelungleichungen 0 2 4 6 8
P(a < X ≤ b) = P(X ≤ b) - P(X ≤ a) = F(b) - F(a)
P(a < X < b) = P(X < b) - P(X ≤ a) = F(b) - f(b) - F(a)
P(a ≤ X ≤ b) = P(X ≤ b) - P(X < a) = F(b) - F(a) + f(a)
P(a ≤ X < b) = P(X <b) - P(X < a) = F(b) - f(b) - F(a) + f(a)
, Statistik / Teil III: Wahrscheinlichkeitsrechnung 73
6. Wahrscheinlichkeitsverteilungen
Darüber hinaus können Wahrscheinlichkeitsverteilungen in gleicher Weise durch statistische
Kennzahlen beschrieben werden. Im Mittelpunkt stehen in bekannter Weise Erwartungswert,
Varianz und Standardabweichung.
Der Erwartungswert einer Zufallsvariablen in der Wert, der im Mittel erwartet werden kann. Die
konkreten Ausprägungen einer Zufallsvariablen X streuen dabei mehr oder weniger stark um
diesen Wert. Der Erwartungswert berechnet sich analog zum arithmetischen Mittelwert in der
deskriptiven Statistik.
µ E(X)
= = ∑ xi ⋅ f(xi )
i =1
Die Standardabweichung als Wurzel der Varianz misst dann die durchschnittliche Abweichung
der Werte vom Erwartungswert, also das Ausmaß der Streuung.
σ2 Var(X)
= = ∑ (xi − E(X))2 ⋅ f(x
= i) ∑ xi2 ⋅ f(xi ) − µ2
=i 1=i 1
σ = Var(X)
Beispiel: Maximale Augenzahl bei zweifachem Würfel-Wurf
Für die Zufallsvariable 'Maximale Augenzahl bei zweifachem Würfel-Wurf' haben wir im
letzten Beispiel die Wahrscheinlichkeitsverteilung bereits bestimmt. Wir greifen dieses Bei-
spiel hier nochmals auf, um Erwartungswert und Standardabweichung zu berechnen. Die
ursprüngliche Tabelle wird einfach um die hierfür notwendigen Rechenschritte erweitert.
2 2
X h(x) f(x) F(x) x ∙ f(x) (x - E(X)) ∙ f(x) x ∙ f(x)
1 1 0,028 0,028 0,0278 0,3349 0,028
2 3 0,083 0,111 0,1667 0,5093 0,333
3 5 0,139 0,250 0,4167 0,3010 1,250
4 7 0,194 0,444 0,7778 0,0434 3,111
5 9 0,250 0,694 1,2500 0,0696 6,250
6 11 0,306 1,000 1,8333 0,7132 11,000
Summe 36 1,000 4,4722 1,9715 21,9722
µ= E(X) = 4,4722
σ2 = Var(X) = 1,9715
bzw.
σ2 = Var(X) = 21,9722 - 4,47222 = 1,9716
σ= 1,4041
Spätestens mit der Kenntnis des Erwartungswerts in Höhe von 4,4722 hätte de Méré ahnen
können bzw. müssen, dass der Bananen-Wettstreit nicht zu seinen Gunsten ausgehen
wird, da die erwartete maximale Augenzahl über dem für ihn günstigen Maximalwert von
vier liegt.