1. Einleitung zum Studienbrief
Historische Perspektiven auf Bildung und Differenz
Historische Perspektiven auf Bildung und Differenz können uns zeigen dass
Kategorien wie Geschlecht, Nation oder Behinderung soziale Konstruktionen sind!
Der Reader soll somit ein historisch-kritisches Wissen über das
Verhältnis von Bildung, Macht und Differenz bereitstellen
Wichtige Merkmale der sozialen Konstruktionen:
1. diese Konstruktionen müssen als ‚Erfindungen‘ der Moderne in Europa angesehen werden
2. soziale Kategorien müssen dualistisch gedacht werden:
männlich versus weiblich bzw. behindert versus nicht-behindert
= ein binäres Ordnungsmuster, dass zudem hierarchisch strukturiert ist:
Männlichkeit wird höher bewertet als Weiblichkeit
3. soziale Konstruktionen sind variabel, widersprüchlich und umkämpft.
sie sind nicht für immer fix und müssen stets reproduziert werden
4. soziale Konstruktionen fungieren als soziale Platzanweiser
5. soziale Kategorien müssen erst hergestellt werden durch juristische, kulturelle oder politische Praktiken
Am Herstellungsprozess sozialer Kategorien bzw. gesellschaftlicher Ordnungsmuster sind auch
Bildungsinstitutionen bzw. pädagogische Praktiken maßgeblich beteiligt
6. die ‚Erfindung‘ sozialer Kategorien in der Moderne sind aufs engste
mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen verbunden
7. Der Verweis auf Kategorien wie ‚Behinderung‘ oder ‚Geschlecht‘ dient zudem bis heute dazu,
soziale Ungleichheiten oder Diskriminierung zu kritisieren
Übersicht der nachfolgenden Texte
‚Behinderung‘ :
Waldschmidt,Anne (2006) — Soziales Problem oder kulturelle Differenz?
Zur Geschichte von ‚Behinderung‘ aus der Sicht der ‚Disability Studies‘
‚Geschlecht‘ :
Hausen, Karin (1976) — Die Polarisierung der ‚Geschlechtscharaktere‘.
Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben
Kleinau, Elke (1996) — Gleichheit oder Differenz?
Theorien zur höheren Mädchenbildung
‚Nation‘ : Anderson, Benedict (1988) — Die Erfindung der Nation: zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts
‚Whiteness‘ : Walgenbach, Katharina (2005) — ‚Weißsein’ und ‚Deutschsein’– historische Interdependenzen
, 2. Waldschmidt, Anne (2006): Soziales Problem oder kulturelle Differenz?
Zur Geschichte von ‚Behinderung‘ aus der Sicht der ‚Disability Studies‘
Zentrale These der Disability Studies ist, dass
‚Behinderung‘ nicht ‚natürlich‘ gegeben ist,
sondern erst gesellschaftlich hergestellt wird
In den USA und Großbritannien sind die
Disability Studies seit den 1990er Jahren = Terminus ‚Behinderung‘ ist ein historisches
wissenschaftlich etabliert, in Deutschland Konstrukt der Moderne
werden sie seit der Jahrtausendwende
zunehmend rezipiert.
Für die Bildungswissenschaft ist in diesem Disability Studies nehmen eine
Zusammenhang vor allem das sich neu
formierende Diskursfeld der Zur Einführung kulturwissenschaftliche und machtkritische
Perspektive auf Behinderung ein
Disability Studies in Education interessant
Behinderung ist hierbei eine soziale
In den Disability Studies geht es um die Konstruktion, die mit Diskriminierungs- und
Dekonstruktion von binären Ordnungsmustern wie Stigmatisierungsmechanismen einhergeht
‚normal‘ versus ‚annormal‘
Verwendung des Begriffs ‚Behinderung‘ als
Was bedeutet ‚normal‘? Wann fängt ‚Annormalität‘ an? Analysekategorie und nicht als Beschreibung
einer biologischen, mentalen oder
psychischen ‚Abweichung‘ von einer Norm
Autorin: Anne Waldschmidt
— Universitätsprofessorin für Soziologie und Politik der Rehabilitation, Disability Studies an der Universität zu Köln
— Leiterin der Internationalen Forschungsstelle Disability Studies (Köln)
— ihre Forschungsschwerpunkte: Körpersoziologie, Normalisierung und Behinderung,
Intersektionalität und Wissenssoziologie
Kontextualisierung des Textes/Lesehinweise
— Waldschmidt versteht unter ‚Behinderung‘ im Sinne Foucaults eine ‚verkörperte Differenz‘.
Dieser unspezifische Sammelbegriff erlaubt es ihr nach diversen Formen gesundheitlicher Beeinträchtigung
zu fragen, die (noch) nicht mit dem Begriff ‚Behinderung‘ belegt wurden
— diverse disziplinäre Bezüge auf Geschichte, Kulturwissenschaften, Soziologie sowie auch zur Bildungswissenschaft
— Bildung und Erziehung haben einen bedeutsamen Anteil an der sozialen Konstruktion von ‚Behinderung‘
sowie an einer Geschichte der Exklusion, Be-Sonderung und Separierung von Menschen mit Behinderungen
im Bildungssystem
— in der Geschichtswissenschaft sind Arbeiten zu Behinderung immer noch selten und wenn sie unternommen werden,
beschäftigen sie sich mit sehr speziellen Thematiken
— es gibt zwar eine ganze Reihe interessanter historischer Forschungsergebnisse, jedoch beschreiben
David L. Braddock und Susan L. Parish Historiografie von Behinderung als mühseliges Unterfangen
— Forschungsergebnisse reflektieren vor allem professionelle Sichtweisen. Es unterbleibt meist eine
beeinträchtigungsübergreifende Betrachtungsweise, die allgemeine Schlussfolgerungen erlauben würde
— Begriff ‚embodied difference‘ bezeichnet vielfältige körperliche, mentale und psychische Auffälligkeiten,
denen gemeinsam ist, dass sie immer nur mittels des Körpers ausgedrückt und wahrgenommen werden können
— Besonders viel versprechend sind die kulturwissenschaftlichen Zugangsweisen der disability history,
Versuche also, Behinderung in einer historischen Perspektive als „kulturelle Differenz“ zu erkunden
, 2. Waldschmidt, Anne (2006): Soziales Problem oder kulturelle Differenz?
Zur Geschichte von ‚Behinderung‘ aus der Sicht der ‚Disability Studies‘
Geschichte der Behinderung:
Historische Prozesse und Forschungsergebnisse
- Prävalenz von gesundheitlicher Beeinträchtigung,
da Krieg, Armut, Mangelernährung, Krankheit, Verletzungen, Geburtskomplikationen
und Körperstrafen weit verbreitet waren
Frühgeschichte und Antike: - es hat keine soziale Gruppe der ‚Behinderten‘ gegeben,
Rudimentäre Fürsorge oder sondern eher Gruppen der Abweichungen und Auffälligkeiten
Behindertenfeindlichkeit? - es gab rudimentäre Fürsorgeleistungen für diejenigen, die
gesundheitsbeeinträchtigt und ohne familiäre Unterstützung oder Arbeit waren
- Tötung von Neugeborenen aufgrund materielle und religiöse Gründe und
Leistungs- und Schönheitsnormen sowie des Aberglaubens, dass
missgestaltete Neugeborene von Dämonen oder dem Teufel stammten
- der sprachliche Terminus „Behinderung“ existierte immer noch nicht
- Medizin hat kein Interesse an unheilbare Zustände,
Mittelalter und frühe Neuzeit: jedoch bestand der Glaube an Wunderheilung und Magie
Magie, Spektakel und - verkörperte Differenz als öffentliches Spektakel und Zurschaustellung von Narren
- Anfänge der institutionellen Fürsorge und Unterbringung
Almosengabe
(z.B. Leprosorium oder ‚Torenkisten‘)
- Therapie mit Behandlungsweisen, die an Foltermethoden erinnern und
Versuche, gehörlose Kinder zu erziehen und zu bilden
- Entstehung von Masseneinrichtungen, in denen Beeinträchtigte
unterschiedlos untergebracht wurden
- verkörperte Differenz als Problem der Rechts- und Vertragsfähigkeit
- es stellte sich die Frage, ob es gelingen würde, sie als logisch denkende Wesen
Zeitalter der Aufklärung: und somit als vertragsfähig auszuweisen
Arbeits- und Vertragsfähigkeit - Gründung der ersten Schulen für gehörlose und blinde Kinder sowie
als „Moderne Problematik“ Entstehung der Orthopädie als neue medizinische Disziplin für „verkrüppelte“ Kinder
- allmähliche Durchsetzung säkularisierter und wissenschaftlicher Sichtweisen
auf verkörperte Abweichungen
- Entstehung der „sozialen Frage“
durch Industrialisierung und Manchesterkapitalismus
- Gesundheitsschädigungen als Ursache von Verarmung und Verelendung
- Entstehung der „Hilfsschule“ ab 1880 in Deutschland, um Volksschule von
„Problemschülern“ zu entlasten (lernschwache Kinder brauchen besondere Förderung)
19. Jahrhundert: - früherer Bildungsoptimismus verschwand und Einrichtungen für gesundheitlich
„Soziale Frage“ und beeinträchtigte Menschen wandelten sich in reine Pflege- und Verwahranstalten
Institutionalisierung - Versuche der Selbstorganisation z.B. von Gehörlosen selbst
- Freak-Shows: bei der „monströse“ Wesen vorgeführt wurden, um den Zuschauern
das eigene Normalsein vor Augen zu führen
- Weitere Ausdifferenzierung und rasanter Wachstum der Sondererziehung
- Entstehung der „Krüppelfürsorge“;
‚Krüppel‘ als „ein in dem Gebrauch seines Rumpfes oder
seines Gliedmassen behinderter Kranker“
- mit dem 1. Weltkrieg wurde gesundheitliche Beeinträchtigung als Kriegsfolge zur
massenhaften Erfahrung in ganz Europa
- Beginn der Rehabilitationspolitik in der Weimarer Republik:
Einführung der Kriegsinvalidenrente und eine verstärkte Selbstorganisation;
Ansätze einer Behindertenbewegung
- nationalsozialistische Politik: ‚Rassenhygiene‘
400’000 Menschen wurden ab 1934 auf der Grundlage des Gesetzes zur
20. Jahrhundert: Verhütung erbkranken Nachwuchses zwangssterilisiert
Kriegsopferversorgung, - Gründung der Bundesvereinigung Lebenshilfe für geistig behinderte Kinder
Rassenhygiene, - Verankerung der Behinderung als eine Bezeichnung für eine
Rehabilitation ‚besondere Lebenslage‘ in deutscher Rechtssprache
- Fortentwicklung der Rehabilitation (Orientierung am traditionellen Anstaltsmodell):
berufliche Förderung wurde fast durchgängig in überbetrieblichen
Ausbildungsstätten mit Internatsunterbringung betrieben;
Etablierung von Sonderarbeitsmärkten und Bereiche Wohnen und Freizeit waren
in sich abgeschlossen
- dank beeinträchtigungsübergreifender Behindertenbewegung wurden Begriffe wie
Selbstbestimmung, Teilhabe und Bürgerrechte
Mag mit Bezug auf Behinderung konzeptionalisiert
- nach Wiedervereinigung: Benachteiligungsverbot; Rehabilitationsgesetzbuch;
Behindertengleichstellungsgesetz
- Behinderung nicht mehr nur soziales Problem, sondern auch eine Bürgerrechtsfrage
, 2. Waldschmidt, Anne (2006): Soziales Problem oder kulturelle Differenz?
Zur Geschichte von ‚Behinderung‘ aus der Sicht der ‚Disability Studies‘
Historische Perspektiven und Ansätze in den „Disability Studies“
— Versuch einer Zwischenbilanz
In einem Jahrhunderte währenden, international parallel verlaufenden Prozess und
in Abhängigkeit von allgemein gesellschaftlichen Entwicklungen, aber auch mit eigener Dynamik
entstand allmählich eine Kategorie, die wir im deutschsprachigen Raum heute „Behinderung“ nennen.
- Behinderung ist somit keine ontologische Tatsache, sondern eine soziale Konstruktion
- gesellschaftliche Reaktions-, Thematisierungs-; Regulierungsweisen
sind für unser Verständnis von Behinderung entscheidend
- das „soziale Modell“ der disability studies begreift Behinderung nicht als individuelles Schicksal,
sondern als Produkt gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Stigmatisierungsmechanismen
- laut dem sozialen Modell benötigt die soziale Randgruppe der behinderten Menschen
sozialpolitische Unterstützung, den Abbau von Barrieren und bürgerrechtliche Gleichstellung
= Behinderung wird primär zu einem „Problem“, das der „Lösung“ bedarf
- nicht nur disability (Behinderung), sondern auch impairment (Beeinträchtigung) ist
kein eindeutig feststellbarer medizinischer Befund,
sondern eine in soziokulturellen Prozessen produzierte Differenzierungskategorie
Drei Ansätze, die sich mit den Schlüsselbegriffen
‚Repression, Widerstand, Kultur‘ verbinden lassen:
1) Eugenische Ansätze und Ausgrenzungsverfahren: Normalisierung- und Rehabilitationsansätze:
- „Einkerkerung“ behinderter Menschen - Wiederherstellung der Handlungsfälligkeit
- gesundheitlich geschädigte Menschen wurden „beschädigter Körper“
als blosse „Abfallprodukte“ angesehen - behinderte Menschen sollen für die Erfüllung
- Entstehung des „Staatsrassismus“ sozialer Rollen fit gemacht werden
- Reinigung des „sozialen Körpers“
von defekten Erbanlagen
- Repression/gewaltsame Unterdrückung
2) Foucaults Ansatz: 3) kulturwissenschaftlicher Ansatz
- Macht und Wissen sind untrennbar - Sichtbarkeit von verkörperter Differenz und
miteinander verwoben auffälligen Zeichen muss erst produziert werden
- neben Staat kann auch Zivilgesellschaft - ‚Produkt des „framings“
Ort von Machtbeziehungen sein (von Kontextualisierung abhängig)
- Ansatz ist hilfreich, um - Ansatz von Mirzoeff eröffnet den Block auf
Politik des Widerstands zu untersuchen allgemein relevante Phänomene
- überall wo Machtverhältnisse existieren, - kulturelle Kontexte werden benötigt, um
formiere sich auch Widerstand Differenz überhaupt herstellen zu können
Diktum von David T. Mitchell und Sharon L. Snyder: “[...] our thinking about the history of embodied differences has only begun.”
Indem Behinderung nicht als universales Phänomen begriffen wird, sondern als zeitgebundene Kategorie,
deren Konstruktion ein Charakteristikum (post)moderner Gesellschaften darstellt, wird der Anspruch erhoben,
einen Beitrag zur Erforschung der Moderne, ihrer Schattenseiten und noch unausgeleuchteten Räume zu leisten.
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