Sprachkontakt
Frau Prof. Dr. Anke Grutschus
Klausur: 06.02.2023 (12-14 Uhr)
Wiederholungstermin: 30.03.2023 (8:30-10:30)
1. Sitzung: Einführung
Grundbegriffe
Sprachkontakt:
- Wechselseitige Beeinflussung von zwei oder mehreren Sprachen bzw. Varietäten
(Varietätenkontakt)
- Zwei Richtungen:
o Den Einfluss der Erstsprache auf die Zweitsprache
o Den Einfluss der Zweitsprache auf die Erstsprache
- Psycholinguistische Definition (Weinreich 1953): Kontakt findet im Gehirn eines/r
bilingualen Sprechers/in statt, der/die zwei Sprachen abwechselnd gebraucht (z.B.
Türken die in der Familie und mit Freunden Türkisch sprechen, und in der Schule oder
auf der Arbeit Deutsch)
- Soziolinguistische Definition (1980er Jahre): Kontakt findet in sozialen
Gruppen/Gesellschaften statt, die zwei Sprachen abwechselnd gebrauchen (z.B. in
Südtirol Deutsch und Italienisch; dabei ist es nicht notwendig, dass jedes einzelne
Mitglied der Gruppe beide Sprachen spricht)
- Verbindung beider Perspektiven: Migrationslinguistik (2000er Jahre): Sprachkontakt
beginnt im Kopf des Individuums und breitet sich in der Gesellschaft aus
Sprachkontakt vs. Mehrsprachigkeit:
Sprachkontakt:
- Fokus auf beteiligte Sprachen
- Sprachkontakt ist das Ergebnis von Mehrsprachigkeit: gleichzeitige Verwendung
mehrerer Sprachen/Varietäten verändert die beteiligten Sprachsysteme
(die Sprache Spanisch In Bonn)
Mehrsprachigkeit:
- Fokus auf (Gruppen von) Sprecher_innen/Sprachgemeinschaften und deren
Eigenschaften
(Spanischsprecher in Bonn)
,Transfer:
- Übertragung eines Elements /einer Struktur/ einer Regel von einer Sprache in eine
andere.
z.B:
Präfixe aus Englisch entlehnen („va on“)
„llamar para atras“ (call back) statt „volver a llamar“
- Gebersprache & Nehmersprache
- Transfer auf verschiedenen sprachsystematischen Ebenen:
o Wortschatz: Übernahme von Wörter und Bedeutungen
o Morphosyntax: Kopie syntaktischer Muster, Transfer von Morphemen
o Phonologie und Prosodie: z.B. Ersatz von Phonemen
Entlehnung (Calque, Calco):
- Meist in historischer Sprachwissenschaft verortet
- Übernahmen aus Gebersprache, die in das Sprachsystem der Nehmersprache
integriert wurde (Kodifizierungs- oder mindestens Konventionalisierungsprozess)
- Lemexe:
o Lehnwörter, z.B.: fr. week-end, engl. mutton, sp. garaje
o Lehnübersetzungen, z.B. gratte-ciel, sp. Rascacielos
Ortographie anpassen näher der Nehmersprache
Mutton (Schaf) aus Franz.
Code-switching bzw. Code-mixing (passiert im selben Kontext)
- Wechsel zwischen zwei Sprachen/Varietäten innerhalb derselben Interaktion. (vgl.
yeah that was fun)
- Vorrausetzung von Code-switching: das anderssprachige Wort kommt spontan in der
Äußerung vor. Es ist nicht schon ein fester Bestandteil des Lexikons (der Unterschied
zur Entlehnung ist also, dass die Äußerungen beim Code-Switching in die Zielsprache
nicht integriert sind)
- Weil die Grenze zwischen Entlehnen und Code-Switching sehr schwankend ist, ist
eine dritte Gruppe entwickelt worden, die als Ad-hoc Entlehnung bezeichnet wird.
Ad-hoc Entlehnungen sind der Zielsprache völlig angepasst, aber werden nicht
generell verwendet. Ad-hoc Entlehnungen unterscheiden sich also von den etablierten
Lehnwörtern, die überall den Muttersprachlern bekannt sind, aber auch von Code-
Switching, weil die Äußerungen beim Code-Switching in die Zielsprache nicht
integriert sind.
, 2. Sitzung: Sprachkontakt – Modelle I – Soziolinguistik
Individuelle Mehrsprachigkeit:
- Zwei- bzw. mehrsprachige Individuen
- Psycholinguistische Theorien, u.a. zum Codeswitching (welche Motivationen dafür,
etc.)
Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit:
- Gesellschaften/soziale Gruppen als Ort des Sprachkontakts, definiert als „the use of
more than one language in the same place at the same time“ (Thomason 2001,1)
- Soziolinguistiche Theorien, u.a. mit Schwerpunkt auf historischen Aspekten
Das Diglossie-konzept
- Diglossie, vgl. griech δι (zwei), γλωσσα (Sprache)
- Verwendung von zwei Varietäten der gleichen Sprache (bzw. genetisch verwandte
Sprache) in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (sog. „Domänen“), z.B.:
privater vs. öffentlicher/institutioneller Bereich
- Diglossie entsteht dadurch, dass…
o Eine Sprache sich ausdifferenziert, weil sie sich territorial ausdehnt (z.B. das
Lateinische)
o Zwei Sprachen überlagern sich durch Eroberung, Kolonisation oder
Ausdehnung des politischen Machtbereiches (vgl. Elsässisch und Französisch
im Elsass)
Klassische Einteilung nach Ferguson (1959)
Charles A. Ferguson (1921-1998): Mitbegründer der Soziolinguistik
Diglossie: Verwendung von zwei funktional unterschiedlichen Sprachvarietäten (high variety
vs. Low variety)
Bsp.:
Arabische Schriftsprache (H-Varietät) vs. Gesprochenes Arabisch (L-Varietät) in Ägypten
Hochdeutsch (H) vs. Schweizerdeutsch (L) in der Schweiz
Haiti-Kreol (L) vs. Französisch (H) in Haiti
, Ferguson nennt neun Bereiche, in denen sich H- und L-Varietät unterscheiden können:
Funktion (Gebrauch in unterschiedlicher Situationen; H: öffentliche Kommunikation
(z.B. unbekannte Menschen, schriftliche form usw.), L: private Kommunikation
(mündlich, Nähe)
- Prestige: die H-Varietät hat ein höheres Prestige
- Literarisches Erbe (H-Varietät als Literatursprache)
- Erwerb (die L-Varietät wird als L1 erworben, H-Varietät wird erst in der Schule
gelernt)
- Standardisierung (nur die H-Varietät ist standardisiert, z.B. Wörterbücher)
- Stabilität (die Diglossie-situation bleibt über Jahrhunderte erhalten)
- Grammatik (komplexer für H-Varietät)
- Lexikon (der Großteil des Lexikons ist gemeinsam, aber es gibt viele Wörter, die nur
in der L-Varietät oder nur in der H-Varietät vorkommen)
- Phonologie (beide Varietäten haben ein einheitliches phonologisches System)
Destabilisierung von Diglossie-Situationen
Was kann die Diglossie-Situation destabilisieren?
- Umfassende Schulbildung/hohe Alphabetisierungsrate
- Bedürfnis nach überregionaler Kommunikation
- Wunsch nach voll funktionsfähiger Nationalsprache
So kann einerseits soziale Stigmatisierung zum Verlust der L-Varietät beitragen (z.B.
Dialekten in Frankreich: sehr stark markiert, fällt sofort auf, Dialekte bringen mit sich die
Idee mit dass man provinziell ist, nicht sehr gebildet, usw.). Andererseits kann das positive
Gefühl der Gruppenidentität zur Aufwertung der L-Varietät führen (z.B. bei Schweizer
oder Südtiroler Dialekte)
Die Ergänzung des Diglossie-Konzepts durch Fishman
Joshua Fishman (1926-2015): US-amerikanischer Linguist; Schwerpunkte: Soziolinguistik,
Sprachplanung, zweisprachige Erziehung
Präzisierung/ Ergänzung von Fergusons Überlegungen:
- Die Sprachen/ Varietäten werden in unterschiedlichen Kontexten erworben:
o die L-Varietät wird normalerweise zu Hause als Erstsprache gelernt und ein
Leben lang benutzt
o Die H-Varietät wird in der späteren Sprachsozialisation außerhalb des Hauses
gelernt, meist in Institutionen.
- H-varietät: höheres Prestige, Sprache der Eliten/dominierenden
Religionsgemeinschaften (z.B. Koran)