2D LE 2: Soziologische Zeitdiagnosen von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute
(Patrick Heiser)
Zeitdiagnosen sind tätig im Bereich zwischen:
an der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert
setzte sich die Soziologie als eine
• Theorie und Empirie akademische Disziplin durch sie verweisen auf Gefährdungspotentiale
• profunder wissenschaftlicher Forschung und
und drohende Krisen und fordern
gesellschaftlicher Breitenwirkung Hauptfrage der Soziologie: gesellschaftliche Akteure dementsprechend
• Allgemeingültigkeitsanspruch der ‚großen‘ soziolog. Theorie und ‚In welcher Gesellschaft zu gewissen Handlungen auf
notwendiger Spezialisierung auf einige wenige Grundzüge leben wir eigentlich?‘
Gesellschaft ist….
Vier grundlegende Funktionen soziologischer
1. Soziologische Zeitdiagnosen: Eine Einleitung • „Risikogesellschaft“ nach Ulrich Beck
• „Erlebnisgesellschaft“ nach Gerhard Schulze
Zeitdiagnosen (Hans-Peter Müller, 2018:22ff.):
• „Kapitalistische Gesellschaft“ nach Luc Boltanski
Konstitutive Funktion: gesellschaftliches • von „Flexibilisierung“ geprägt (Richard Sennett)
Orientierungswissen wird zur Verfügung gestellt • von „Desintegration“ geprägt (Wilhelm Heitmeyer)
• von „Beschleunigung“ geprägt (Hartmut Rosa)
Kognitive Funktion: Zeitdiagnosen wurden
bezüglich der Gesellschaftstheorie und der
empirischen Analyse heraus entwickelt
Die ‚Gesellschaft als Ganzes‘ ist
Expressive Funktion: Verdichtung von pluralen Untersuchungsgesgenstand
Erfahrungsmöglichkeiten und -wirklichkeiten der soziologischer Zeitdiagnosen eine normativ-kritisch ausgerichtete Zeitdiagnose
Menschen auf nur wenige oder nur einem Begriff kann auch Probleme nach sich ziehen wie:
Dabei werden Phänomene in
Evaluative Funktion: normatives Urteil über gesellschaftlichen Teilbereichen wie
z.B. Transformationspozesse in Problem des Normativen: Werturteile und Lösungsvorschläge
Zustand der Gegenwart wird getroffen
Organisationen, Entwicklungen in bewegen sich meist an der Grenze normativer Postulate
Politik oder Bildungssystem oder der
Wandel der Lebensführung von Problem der Adäquanz: Gefahr der Vereinseitigung durch
Menschen in Zusammenhang mit Verdichtung auf nur einen zentralen Begriff
der gesamten Gesellschaft gebracht
Problem des Zeitgeistes und der Ideologie:
Theorie- und Methodenbildung sind immer „Kind“ ihres
historischen und sozialen Kontextes;
daher sind sie nicht frei von ideologischen Vorannahmen, was
z.B. zu Problemen für den Selbstanspruch der Objektivität führt
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2. Das schwierige Leben in der „Zweiten Moderne“: Ulrich Becks „Risikogesellschaft“
(Ute Volkmann)
Die Latenz der Risikogesellschaft
• verfasste 1986 das Werk „Risikogesellschaft“ - vor Tschernobyls Explosion
• Risikogesellschaft resultiert aus der Eigendynamik der Industriegesellschaft
(fortschreitende Modernisierung führte zu einem Wandel von „Erster Moderne“ zur „Zweiten Moderne“)
• Erste Moderne = gewollte Entwicklung einer Industriegesellschaft, die Agrargesellschaft auflöst
• Zweite Moderne = reflexive Modernisierung; Übergang zur Risikogesellschaft;
Aufhebung der Latenz von Modernisierungsrisiken (Latenz = Verborgenheit)
• es kommt zu einem reflexiven Modernisierungsprozess: Selbstkonfrontation mit Nebenfolgen und Risiken
• dieser Modernisierungsschub vollzog sich im Verborgenen
• von zentraler Bedeutung für Modernisierung insgesamt sind die Wissenschaften
Die Strukturen der Risikogesellschaft
Um Erste und Zweite Moderne abzugrenzen, führt Beck die Kategorien Reichtum und Risiken ein:
Reichtum: „erstrebenswerte Knappheiten“ Risiken: „Modernisierungsbeiprodukt
wie Bildung, Einkommen, Konsumgüter etc. von verhinderungswertem Überfluß.“
• Während in der Industriegesellschaft die Logik der Reichtumsproduktion dominiert,
existiert in der Risikogesellschaft neben der Logik der Reichtumsproduktion auch noch die Logik der Risikoproduktion
• Risikogesellschaft ist nicht national begrenzt („Weltrisikogesellschaft“)
• Probleme, die unter den strukturellen Bedingungen der Ersten Moderne völlig unbekannt waren:
- Risiken „sagen, was nicht zu tun ist, nicht aber, was zu tun ist …“
- Risiken müssen überhaupt erstmal erkannt werden; Latenz von Modernisierungsrisiken muss aufgebrochen werden
- es sind Modernisierungsrisiken und nicht etwa Gefährdungen natürlichen Ursprungs wie Erdbeben, Wirbelstürme…
- Risiken lassen sich nur mithilfe der Wissenschaft definieren: ohne Experten weiß man nicht, ob man gefährdet ist oder nicht
- Risiken werden kommunikativ vermittelt durch Journalisten/Massenmedien,
die das wissenschaftliche Wissen „übersetzen“ und der Öffentlichkeit zugänglich machen (vgl. SB, LE 2, S.12)
„Die Risikogesellschaft ist in diesem Sinne auch die Wissenschafts-, Medien- und Informationsgesellschaft“
Die institutionalisierte Nichtzuständigkeit
das gesellschaftliche Teilsystem ‚Wissenschaft‘ ist auf dreierlei Weise mit Risiken verknüpft:
Wissenschaft produziert Risiken, da ihre Erkenntnisse der Naturbeherrschung in der Industrie umgesetzt werden
Wissenschaft definiert Risiken und macht sie sichtbar
Wissenschaft bewältigt Risiken, indem ihre Erkenntnisse über Kausalzusammenhänge
zwischen technisch-wirtschaftlicher Produktion und deren Nebenfolgen umgesetzt werden
Aber: Kein Wissenschaftler ist zuständig dafür, was mit seinen Erkenntnissen geschieht, sondern Wirtschaft und Politik (und jeder einzelne)
sind für die Modernisierungsrisiken verantwortlich
• „organisierte Unverantwortlichkeit bzw. Zuständigkeit als Unzurechenbarkeit“ (Beck, 1988: 100):
Es sind nämlich sehr wohl Zuständigkeiten auszumachen, aber diese sind auf mehrere gesellschaftliche
Teilsysteme verteilt und „keiner fühlt sich zuständig“ (Unzuständigkeit)
• dadurch steigen die Gefährdungen und Beck fordert daher die „Erfindung des Politischen“ (1993), um soziale Integration
der Gesellschaft realisieren zu können („Projektive Integration“ d.h. man muss den Individuen Raum zur Entfaltung geben,
um „aus den drängenden Zukunftsfragen neue, politisch offene Bindungs- und Bündnisformen zu schmieden“
(Beck/Beck- Gernsheim 1994: 35))
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2. Das schwierige Leben in der „Zweiten Moderne“: Ulrich Becks „Risikogesellschaft“
(Ute Volkmann)
Die Freisetzung der Individuen
Merkmal des Modernisierungsprozesses = zunehmende Individualisierung / Freisetzungsprozess
• Individualisierung bedeutet ‚Herauslösung aus Sozialformen der Industriegesellschaft‘ (SB, LE 2, S.16)
• der wirtschaftlich-industrielle Aufschwung der 50er und 60er Jahre (also Verbesserung der allgemeinen
Lebensbedingungen) brachte diesen Freisetzungsprozess hervor
• Fahrstuhl-Effekt nach oben: „ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung Mobilität, Recht, Wissenschaft“
• Frauen profitierten zwar von der Bildungsexpansion und waren mittlerweile nicht mehr auf die Versorgung
durch Ehemänner angewiesen, aber am Arbeitsmarkt hatten sie weiterhin keinen gleichberechtigten Zutritt
• „Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist ab jetzt unauslöschbar sichtbar.“ (Beck,1994: 129)
• Familien/Partnerschaften wurden zu Bindungen auf Zeit
• industriegesellschaftliche „Normalbiographie“ wird zur weniger lebbaren „Bastelbiographie“
• Vielzahl an Wahlmöglichkeiten bedeutet sich zwangsläufig für etwas entscheiden zu müssen
• Der „Befreiung“ aus vorgegebenen Formen steht nun der Zwang zur Autonomie gegenüber
d.h. im Mittelpunkt steht nun die Eigenverantwortlichkeit und Selbstbezogenheit der Akteure
Vom Sachzwang der Systeme zur Verantwortung der Akteure
Eigenverantwortlichkeit der Akteure im Hinblick auf Modernisierungsrisiken
• dieser Zwang, für das eigene Leben eigenverantwortlich Entscheidungen treffen zu müssen,
wird gerade im Hinblick auf Modernisierungsrisiken zu einer notwendigen Fähigkeit
• risikobewusstes Denken und Handeln ist dabei an sozialer Rationalität orientiert;
es geht um das Überleben der Gesellschaft („zweite Stufe reflexiver Modernisierung“)
• für eine sichere Zukunft erscheint eine ‚Entdifferenzierung‘ für Beck sinnvoll und notwendig:
Entdifferenzierung erfolgt durch ein „verändertes Selbstverständnis von Wissenschaft sowie
über ein gewandeltes Politikverständnis“ (Beck, 1994)
• Entdifferenzierung durch „Erfindung des Politischen“, also durch eine Gesellschaft mündiger Bürger
• Individuen müssen sich selbst zu ‚wissenschaftlichen Experten‘ entwickeln und
sich selbst als gesellschaftliche Akteure wahrnehmen
„Die gesellschaftliche Politisierung basiert auf strukturellen Voraussetzungen fortgeschrittener Modernisierung.
Der Modernisierungsprozess bringt also einerseits die Risiken hervor, schafft anderseits aber auch die Bedingungen zu ihrer Bewältigung.“
(SB, LE 2, S.21)
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3. Das Projekt des schönen Lebens: Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“
(Ute Volkmann)
• Schulzes Gegenwartsanalyse in dem Buch „Die Erlebnisgesellschaft“ ist fokussiert auf
die Gemeinsamkeiten ihrer kognitiven Haltungen und ihrer kulturellen Praxis
• laut Schulze besteht soziale Ordnung in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft
durch folgende Gemeinsamkeit der Akteure: „Der kleinste gemeinsame Nenner von
Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft ist die Gestaltungsidee eines schönen,
interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens.“ (Schulze, 1992, S.37)
= Schönes Leben als gemeinsamen Nenner
• Erlebnisgesellschaft als Übergangszustand
Entgrenzung - die Genese der Erlebnisgesellschaft
Die Erlebnisgesellschaft entstand im Zuge der Erhöhung des Lebensstandards vieler Menschen:
Im Alltagsleben: Im Wirtschaftssystem:
steigendes Einkommen und Vervielfachung von Angeboten an Waren
reduzierte Arbeitszeit und Dienstleistungen
Durch den Gewinn an mehr Zeit, Wandel des Subjekt-Situation-Verhältnisses,
Geld und Mobilität und durch indem das Handeln entgrenzt wurde. D.h.
Technisierung konnten Menschen die Situation schränkt nicht mehr ein,
erlebnisorientierter leben! sondern eröffnet jede Menge Optionen.
„Entgrenzung heißt Zunahme der Möglichkeiten; die Erhöhung der Konsumchancen ist nur einer von vielen Aspekten.
Gemeint ist nicht bloß ein Wohlstandsphänomen, sondern ein Modernisierungsphänomen, das auch durch
Arbeitslosigkeit, Rezession und Stagnation der Realeinkommen nicht vertrieben werden wird.“ (Schulze 1997: 86)
Die Orientierungskrise: Von der Außen- zur Innenorientierung
Entgrenzung der Lebenssituation führte zu veränderten Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Einstellungsmuster
sowie zu einem Wandel von Außen- zur Innenorientierung
• ab Nachkriegszeit bis 60er war der Fokus auf die Situation gerichtet, also außenorientiert
• zu dieser Zeit strebte man vor allem nach materieller Absicherung und wichtig war dafür die Erwerbsarbeit
• jedoch hatte die Orientierung an Nutzen, Qualität und Reichtum auch negative Folgen:
- zunehmend schwieriger, einen „äußeren“ Nutzen von Gegenständen zu definieren
- durch wissenschaftlich-technische Perfektion nehmen objektive Qualitätsunterschiede ab
- Orientierung an sozialem Aufstieg, d.h. Reichtum, verliert ihre Bedeutung für das Alltagsleben
• Konsumenten fehlen Maßstäbe, um aus dem Überangebot die richtige Auswahl zu treffen:
wichtig/unwichtig (Nutzenkategorie), gut/schlecht (Qualitätskategorie) und viel/wenig (Reichtumskategorien)
sind keine Orientierungsmaßstäbe mehr Orientierungsdruck / Orientierungskrise
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• durch Krise stellten sich innenorientierte Motive sowie der psychophysische Akt des Erlebens ins Zentrum
• „[…] ausgelöst durch die Entgrenzung der Situation, wird Denken innenorientiert: Es bezieht sich auf Ziele in
uns selbst […]“ (Schulze 1993: 408/409) = Erlebnisrationalität
• Akteure folgen nach wie vor dem Kosten-Nutzen-Prinzip, nur zielt ihr Handeln jetzt auf einen subjektiven Prozess