Marcel J. Paul
Neuere deutsche Literatur - Aufklärung (1680 - 1805)
Ideengeschichtliche Phasengliederung und Periodisierung:
1. Frühe Phase (1680-1740) Rationalismus, Renee Descartes, Gottfried Wilhelm Leibnitz, Christian
Wolff
2. Mittlere Phase (1740-1780) Empirismus = Aufwertung der Sinneswahrnehmungen zeigt sich in der
empfindsamen Literatur, Erfahrungen die ich mache = Ausgangspunkt menschl. Wissens
3. Späte Phase (1780-1805) Kritizismus (Kant = gg. einzelne Strömungen, verbindet beide miteinander)
Empfindsamkeit: Fähigkeit zum Mitleiden → zärtliche Liebe = nicht physische Attraktivität, sondern moralische Integrität,
Sittlichkeit = Empfänglichkeit für ein Liebesgefühl, das sich auf die moralischen Qualitäten des Gegenübers bezieht
Zur Zeit der Empfindsamkeit neue Freundschafts- und Briefkultur = Geselligkeit, Vertreter: Klopstock
Merkmale der Aufklärung
1. Vernunftsorientierung: gegen Aberglaube, Vorurteile, alte Pos. durch eigenen Verstand überdenken (= Erzie-
hung zur Mündigkeit)
2. Erziehungsanspruch und Literatur als Medium der Selbstverständigung des sich formierenden Mittelstandes,
z.B. durch moralische Wochenschriften und die entstehende Briefschreibe- und Vorlesungskultur
= Förderung einer publizistischen Öffentlichkeit
= Kunst gewinnt an Automie, Herausbildung eines freien Buch- und Zeitschriftenmarktes, gelingt jedoch kaum
(Lessing = Buchhändler, Goethe = Minister, Schiller = einzig freier S.)
= Literatur richtet sich nicht mehr nur an höfisches Publikum, sondern an gesamten alphabetisierten Teil der
Bevölkerung
3. Wissenschaftliche Erkenntnisabsichten
4. Säkularisierung
Theater um 1700 (vor Gottscheds Theaterreform:)
Wandertruppen (Musiker, Schauspieler, Tänzer), Unterhaltungsfunktion, Sprechtheater (Haupt- und Staatsaktio-
nen), Kein Literaturtheater: keine schriftlich fixierten Stücke, Stehgreifspiel, Fokus auf theatrale Situation, Hand-
lung unwichtig, Affizierung des Publikums
Gottscheds Forderungen an die Tragödie
(aus: „Versuch einer critischen Dichtkunst vor die deutschen“ (1730))
- moralischer Lehrsatz als Grundlage der erdichteten Fabel, nach Aristoteles
- Dramatisches Personal: Vornehme Personen (Könige, Fürsten) aufgrund der Fallhöhe
- Stoff: Handlung fußt auf Historie oder Mythos
- Wirkungsziel: Zuschauer sollen lernen, ihnen zugestoßenes Unglück zu ertragen
- Wirkungsästhetik: Drama soll Bewunderung für Protagonisten evozieren
- Theater soll Menschen erziehen und aufklärerische Gedanken vermitteln, keine Affekte
Bürgerlich: Leitkultur des formierenden Mittelstandes, der sich vom höfischen Adel und gemeinen Volk abzugrenzen versucht, Syn-
onym für: rein menschlich, häuslich, privat, familiär, bedient sich der Empfindsamkeit = Natürlichkeit, sog. Gleichheit (unter Män-
nern), Freundschaft, Emphatie, Rechtschaffenheit, = neue Gruppenidentität
Mittelstand: keine homogene Gruppe, = Minister, Künstler, etc., untersch. Herkunft und Einkommen
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Das bürgerliche Trauerspiel (nach G. E. Lessing)
- Eleos: Mitleid (Mitfühlen mit dem Protagonisten, der ins Unglück stürzt)
- Phobos: Furcht vor dem eigenen Schicksal
- Karthasis: Komplex, = Läuterung der Seele
- Wirkungsziel: die Fähigkeit Mitleid zu fühlen erweitern,
- Figurenkonzeption: Darstellung von Privatpersonen, die dem Zuschauer ähnlich sind (Bruch mit der Stände-
klausel)
Merkmale des (empfindsamen) bürgerlichen Trauerspiels (1750-1770)
- Zeit: Gegenwart (18. Jhr.)
- Zentrale Welt: Familienkreis
- bevorzugter Raum: Mittelstand
- Wirkungsziel: Abschreckung vom Laster und Nachahmung der Tugend und/oder Mitleiden der Zuschauer
- Tugend und Laster als Orientierungspunkt der inneren Handlung
- Glaube an die moralische Besserungsfähigkeit des Menschen
Häufige Elemente des e.-bürgerlichen Trauerspiels (1750-1770)
- lange Rührszenen (Handlungsarm)
- Warnung vor unkontrollierbaren Affekten
- im Zentrum: tugendhafte Frau, die ins Unglück gerät
- Familiäre Konflikte: Pflicht vs. Liebe
- Zärtliche oder autoritäre Vaterfigur, Mutter tritt meistens nicht in Erscheinung
- schwankend und charakterlich schwache Liebhaberfiguren
- gefühllose, egoistisch-gewissenlose, tyrannisch-unmenschliche Gegenspieler
- Tableauartige Schlussauftritte, mit allseitigem Verstehen, Verzeihen und Verzichten auf Rache und Rivalität
Das bürgerliche Trauerspiel (1770-1780)
- starke Affekte statt empfindsamer Momente = Aufwertung der Sinneswahrnehmungen
- nicht vernünftiger, sondern empfindsamer Mensch = Ideal (ratio ↔ emotio)
- Interesse an psychologischen Befinden/Zerwürfnis des Menschen = Distanzlosigkeit
- Figuren als Vertreter eines konkreten Standes- und Berufsmilieu
- die moralischen Übel können in jedem sozialen Milieu vorhanden sein
- schärfere Standeskonflikte
Ode
- altgr. Lied, Gesang
- Abgrenzung vom Lied gegen Ende des 18. Jhr. durch hohen, feierlichen Stil
- kein Endreim
- lange Form des Gedichts, gleichmäßige Strophen
- muss keinem festen Metrum folgen
Zusatzinformationen:
Frühromantik gegen Aufklärung, da zu vernunftorientiert, A. hat optimistisches Ideal, Freientfaltung des Menschen
möglich = im Diesseits glücklich werden, A. versucht mit steigendem Literaturzweig Themen in die Öffentlichkeit
(Zeitungen, Wochenschriften) zu bringen, erste Briefromane,
Behandelte Literatur: Miss Sara Sampson (1755), Empfindsamkeit: Der Zürchersee (1750)
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Neuere deutsche Literatur - Sturm und Drang (1765 - 1785)
- Radikale Aufwertung des Gefühls
- Ablehnung der repressiven Strukturen in allen Bereichen
- politische und gesellschaftliche Machtinstanzen
- autoritäre Familienstrukturen
- sexuelle Repressionen
- Herrschaft poetologischer Regeln
- resignativer Zug, nicht mehr optimistisch wie in Aufklärung = freie Entfaltung durch Zwänge unmöglich
- „Natur“ als Leitwert = Freiheit und Entfaltung
- Geniekult: Shakespeare als Inbegriff des Originalgenies
- Konflikt: Trieb ↔ Zwang, Trieb scheitert immer
- Gattungsvermischung mit späteren Romantik
- Autoren vor allem junge Männer: Herder (31 J., 1775), Goethe (26 J.), Schiller (16 J.)
Literatur des Sturm und Drangs
- komplexe Figurenzeichnung (statt Primat der Handlung)
- = im Zentrum meistens ein genialischer Kraftkerl, der im Kampf gegen repressive soziale, politische und/oder
familiäre Zwänge scheitert
- exaltierte, gefühls- und ausdrucksstarke Sprache
- Scharfe Kritik an sozialen, familiären und politischen Missständen
- Wirkungsästhetik: Texte zielen auf Evokation starker Affekte
Evokation: [suggestive] Erweckung von Vorstellungen oder Erlebnissen (z. B. durch ein Kunstwerk, seine Formen und Inhalte)
Zentrale Texte des Sturm und Drangs
- Hauptform der Dichtung ist das Drama, beispielhafte Werke:
- Friedrich Schiller: Die Räuber (1781), Kabale und Liebe (1784)
- Jakob Lenz: Der Hofmeister oder Die Vorteile der Privaterziehung (1774), Die Soldaten (1776)
- Friedrich Klinger: Sturm und Drang (1776)
- Johann W. Goethe: Götz von Berlichingen (1773), Clavigo (1774)
Merkmale des Sturm und Drang
1. psychische Disposition und Handlungsmotive stehen im Vordergrund
2. Radikale Aufwertung des Gefühls: manifestiert sich in Liebeskonzepten:
1. leidenschaftliche (erotische) Liebe statt vernunftorientierter Affekte
2. Liebe als empfindsames Einverständnis
3. Ablehnung von repressiven Strukturen in allen Bereichen
4. Natur als zentraler Leitwert
1. Bezogen auf die Kunst: Kunst als subjektiver Gefühlsausdruck vs. Orientierung an der Regelpoetik
2. bezogen auf die Liebe: bedingungslose Hingabe an das Gefühl vs. vernünftiger, gemäßigter Affekte
5. Exaltierte, gefühls- und ausdrucksstarke Sprache
6. Text zielt nicht auf die Rührung des Lesers sondern auf die Evokation starker Affekte
Exaltiert: (künstlich) aufgeregt, übersteigert, hysterisch, überspannt
Behandelte Literatur: J. W. von Goethe: Die Leiden des jungen Werther (1774), Zum Schäkespears Tag (1771)