Lehrbuch 2:
Kapitel 1: Entwicklung des Denkens
Piagets Theorie besagt, dass Kinder 4 aufeinander aufbauende Stadien durchlaufen, wobei jedes
Stadium eine charakteristische Art und Weise ihres Denkens zum Ausdruck bringt.
In der heutigen Forschung werden domänenspezifische Theorien herausgearbeitet, dass die
Veränderungen kindlichen Denkens nicht, wie von Piaget angenommen, auf solchen allgemeinen,
inhaltsunspezifischen Veränderungen von vier Denkstufen beruhen. Stattdessen wird angenommen,
dass Veränderungen des kindlichen Denkens entscheidend durch spezifische Erfahrungen und
erworbenes Wissen beeinflusst werden.
Wygotski stellte in seiner Theorie heraus, welche herausragende Bedeutung der kulturelle Kontext
für die Entwicklung des kindlichen Denkens besitzt. Ein weiteres Augenmerk lag für ihn in der
Bedeutung, die Sprache auf das Denken von Kindern ausübt.
1.1 Piagets Theorie
betrachtete das Kind als Wissenschaftler, der sein Wissen durch die ständige Auseinandersetzung
mit der Umwelt konstruiert.
Kinder müssen aktiv, durch ihre eigenen Erfahrungen, Wissen erwerben. Sie sollen selber den
sogenannten Aha-Prozess durchlaufen, der durch eine bloße Wissensübermittlung nur selten
ausgelöst werden kann.
Das kindliche Denken entsteht dadurch, dass sich immer adäquatere Denkschemata ausbilden.
Solche Schemata sind geistige Systeme, wie ein Muster von Gedanken oder Handlungen, mit
deren Hilfe Kinder die Umwelt interpretieren.
Die Weiterentwicklung von Schemata geschieht nach Piaget durch zwei angeborene kognitive
Prozesse, durch ihre Organisation und Adaptation.
o Organisation bedeutet, dass die Kinder verschiedene, schon existierende Schemata zu
größeren, sogenannten kognitiven Strukturen zusammenfügen.
o Adaptation bedeutet, dass Kinder ein intrinsisches Bedürfnis haben, sich so an ihre Umwelt
anzupassen, dass sie mit ihr in einem kognitiven Gleichgewicht, einem Äquilibrium, stehen.
o Das Äquilibrium besteht aus einer Passung zwischen den eigenen Schemata und den
Vorkommnissen der Umwelt. Es kann durch Prozesse der Assimilation und
Akkommodation erreicht werden.
Assimilation stellt den Prozess dar, mit dem Kinder probieren, die Umwelt im Sinne ihrer
vorhandenen Schemata zu interpretieren. Z.B. Löwe wird aufgrund der 4 Beine als Hund gesehen
o Sie passen somit die Außenwelt an ein vorhandenes Schema an.
Akkommodation dagegen bedeutet, Schemata an neue Umweltgegebenheiten anzupassen.
o Z.B. wird dem falschen Hund ein neuer Name gegeben, da das Kind merkt es passt nicht
ins Schema des Hundes.
Im Regelfall arbeiten Assimilation und Akkommodation zusammen und bilden den
Äquilibrationsprozess, der dann zum Äquilibrium führt.
Piaget geht davon aus, dass die genannten Prozesse der Organisation und Adaptation der
Schemata 4 qualitativ unterschiedliche Stadien durchlaufen, wobei die Stadien aufeinander
aufbauen und nicht übersprungen werden können. Auf jedem Stadium kommt eine
charakteristische Weise zum Ausdruck, wie die Kinder ihre Schemata organisieren und anpassen.
,1.1.1 Sensumotorisches Stadium (0 bis 2 Jahre)
Dem ersten Denkstadium hat Piaget ganz besondere Beachtung geschenkt.
Es beschreibt, dass Säuglinge im Laufe der ersten beiden Lebensjahre 6 sensumotorische Stufen
durchlaufen.
sensumotorischen Stufen verdeutlichen, wie aus sensumotorischen Erfahrungen und
Handlungen werden geistige Prozesse, also Denken in Gang kommt.
Das Bedürfnis der Kinder, einfache Handlungen unermüdlich zu wiederholen, nimmt hierbei eine
Schlüsselrolle ein. Kreisreaktionen.
o Kreisreaktionen sind erst auf den Körper bezogen, dann auf die ergreifbare Außenwelt.
o Die Kinder führen sich dadurch selbst vor Augen, wie eine bestimmte Aktivität zu einem
ganz spezifischen Effekt führt. Bsp. Für einen solchen Wenn-Dann-Zusammenhang ist wenn
sie an der Decke ziehen, sehen sie ihre Füße.
o Solche „Wenn-dann-Zusammenhänge“, die letztlich Grundbaustein schlussfolgernden
Denkens sind, verstehen die Kinder aber erst allmählich. Sie erfreuen sich zunächst einfach
daran, die Effekte zu beobachten. Erst mit Vollendung des ersten Lebensjahres erkennen sie,
dass ihr Handeln spezifische Effekte in der Umwelt hervorruft.
Mit diesem ersten Denken geht einher, dass Kinder eine interne Repräsentation von etwas
Beobachtetem aufgebaut haben.
o Sie wissen nämlich, dass ein Objekt auch dann noch existiert, wenn sie es selbst aktuell nicht
sehen. Objektpermanenz
Bei Vollendung des ersten Lebensjahres sind beide genannten Bereiche des kindlichen Denkens
noch sehr labil und unflexibel.
o Wird ein Objekt z.B. aus einem Versteck (A) herausgeholt und an einem anderen Ort (B)
versteckt, so suchen die Kinder das Objekt weiterhin an Ort A. Dieses Verhalten bezeichnet
Piaget als den A- nicht B-Fehler.
Im Laufe des zweiten Lebensjahres aber erlangt das Denken der Kinder eine immer größere
Stabilität und Flexibilität.
o Der A- nicht B-Fehler verschwindet
o und sie können z.B. eine gesehene Handlung auch dann noch reproduzieren, wenn sie
nicht mehr zu beobachten ist. Sie sind also zu einer verzögerten Nachahmung fähig.
Das Denken in Form von „Wenn-dann-Beziehungen“ über intern repräsentierte Objekte und
Handlungen hat sich also aus dem kindlichen Handeln heraus konstruiert.
o Piaget bezeichnet das Denken somit auch als verinnerlichtes Handeln.
, 1.1.2 Präoperationales Stadium (2 bis 7 Jahre)
Eine wesentliche Errungenschaft dieses Stadiums ist es, dass die Kinder nicht nur über stabile
mentale Repräsentationen über die Objekte und Ereignisse der Umwelt verfügen, sondern dass
ihre internen Repräsentationen auch symbolisch sein können. Objekte können in der Phantasie
neue Funktionen bekommen.
o Kinder verwenden z.B. im Spiel einen Bauklotz, um zu telefonieren.
Wichtigstes Symbolsystem des Denkens, das Kinder in diesem Alter entwickeln, ist die Sprache.
Die Kinder sind nämlich noch nicht imstande, geistige Operationen vollständig durchzuführen.
Ihre mentalen Repräsentationen bauen zwar auf „Wenn-dann-Beziehungen“ auf, aber es gelingt
ihnen nicht, solche Beziehungen wieder rückgängig zu machen.
o Diese „Reversibilität“ macht Piaget dafür verantwortlich, dass in diesem Alter noch viele
„Denkfehler“ auftreten.
o Umschüttaufgabe als Demonstration dafür
Klasseninklusion: Kinder stellten ungefragt einen Vergleich zwischen den Unterklassen (rote,
gelbe Blumen) an, obwohl nach einem Vergleich zwischen der Ober- und der Unterklasse gefragt
war. Sie sind also noch nicht imstande, die Transformationslogik der Klassenhierarchisierung
anzuwenden und zu verstehen, dass ein Exemplar gleichzeitig zur Oberklasse und zur Unterklasse
gehören kann.
Drei-Berge-Aufgabe: Kinder sollten angeben, wie eine Person, die aus einer anderen Perspektive
auf die Berge schaut. Sie wählten jedoch das Bild aus, das ihrer eigenen Perspektive entspricht.
Sie können sich also nicht in die Perspektive einer anderen Person hinein versetzen.
o Piaget bezeichnete dies als kindlichen Egozentrismus
Der Egozentrismus der Kinder führt auch dazu, dass sie Erklärungsmuster, die für sie selbst
gelten, auf Objekte und Naturereignisse übertragen. Piaget bezeichnet diese Charakteristik des
kindlichen Denkens als Animismus. Kinder glauben z.B., dass die Sonne scheint, weil sie sich freut
oder erklären sich, dass sie sich an einem Tisch gestoßen haben, damit, dass der Tisch böse ist.
1.1.3 Konkret-operationales Stadium (7 bis 12 Jahre)
In diesem Stadium sind Kinder fähig, vollständige Operationen durchzuführen, da sie die wichtige
Transformation der Reversibilität beherrschen. Dadurch wiederum sind sie befähigt, die
Zentrierung auf einzelne Dimensionen zu überwinden und können somit zu einem adäquateren
Wissen über physikalische und numerische Grundkonzepte gelangen.
Nicht immer führt die Dezentrierung aber zu der korrekten Verarbeitung der Informationen aus
verschiedenen Dimensionen.
o Wenn es die Kinder z.B. bei der Schätzung von Flächen überwunden haben, nur auf die
Höhe der Flächen zu zentrieren und stattdessen auch die Breite einbeziehen, zeigen sie
zunächst noch eine fehlerhafte Integration dieser Informationen.
Anstatt die korrekte Flächenberechnung der Multiplikation von Breite und Höhe
anzuwenden, addieren sie zunächst die Werte auf diesen Dimensionen.
Weitere Fortschritte der Kinder in diesem Stadium bestehen darin, dass sie den Egozentrismus
überwinden, keine animistischen Deutungen mehr anwenden und auch über die Logik der
Klassenhierarchisierung verfügen.
Der korrekte Einsatz logischer Operationen führt dazu, dass sie beginnen, Systeme von
Operationen aufzubauen wie die Addition und Subtraktion und später Multiplikation und
Division. Wesentlich für die Denkoperationen dieses Stadiums ist, dass sie sich auf konkret
beobachtbare Inhalte beziehen.
Kinder dieses Altersbereichs sind noch nicht imstande, abstrakt zu denken und Inhalte lediglich
aus ihrer Vorstellung heraus in ihre logischen Operationen einfließen zu lassen.
1.1.4 Formal-operationales Stadium (ab 12 Jahre)