Lehrbrief 4 – Entwicklung der Geschlechtsidentität, psychische Störungen und Interventionen
Kapitel 1 - Entwicklung der Geschlechtsidentität, geschlechtstypischer Einstellungen und
geschlechtstypischer Verhaltensweisen
1.1 Einleitung
Geschlechtszugehörigkeit hat Auswirkungen auf die sexuelle Orientierung, die Entwicklung von
Interessen, Aktivitäten und die Gestaltung sozialer Beziehungen.
In der Entwicklung müssen Kinder lernen, dass die Zugehörigkeit zu diesen unveränderlich ist,
welche Eigenschaften und Verhaltensweisen bei den Vertretern welchen Geschlechts bevorzugt
auftreten oder ausschließlich bei diesen vorkommen.
Kinder müssen zudem eine akzeptierende Einstellung zu ihrem Geschlecht aufbauen sowie
passende Interessen und Verhaltensweisen entwickeln.
1.2 Die Entwicklung der Geschlechtsidentität
Geschlechtsidentität beinhaltet die Selbstwahrnehmung als männlich oder weiblich, die
Bewertung der Geschlechtszugehörigkeit (wie positiv) und die Selbstbeschreibung mit
geschlechtsbezogenen Eigenschaften.
Voraussetzung zum Erkennen des eigenen Geschlechts ist der Erwerb der Erkenntnis, dass es
zwei Geschlechter gibt.
Experimentell konnte nachgewiesen werden, dass bereits 3- und 4-monatigen Kindern männliche
und weibliche Gesichter perzeptuell unterscheiden können
o Bevorzugung ist unabhängig vom Geschlecht des Kindes
Die Begriffe Junge/Mädchen werden etwa ab dem 18. LM von den meisten Kinder verstanden
Nach Kohlberg vollzieht sich die Entwicklung der Geschlechtsidentität in 3 Schritte:
o 1. Erkennen des eigenen Geschlechts,
o 2. Erkennen der zeitlichen Stabilität des Geschlechts
o 3. Verständnis der Konstanz des Geschlechts über verschiedene Situationen hinweg
Er nahm an, dass das Verständnis der Geschlechtskonstanz wichtig für die
Organisation von Wissen über die Geschlechter und für die Motivation zum
Erwerb dieses Wissens ist.
Andere Autoren nehmen an, dass das Erkennen des eigenen Geschlechts für die
Motivation der Kinder ausreicht, über ihr Geschlecht Informationen zu sammeln
und zu speichern sowie sich passend zu verhalten.
Interviewergebnisse von Slaby und Frey:
o Geschlechtsidentität: Im ersten Entwicklungsschritt können Kinder ihr Geschlecht
zuordnen, sie haben aber noch nicht verstanden, dass dies über die Zeit stabil und
über verschiedene Situationen hinweg konsistent ist. Ab 3 Jahren
Sie können Erwachsenen früher zuordnen als Kinder. könnte bedeuten,
dass Geschlechtsunterschiede bei Erwachsenen leichter zu beobachten sind
oder dass diese für die Kinder bedeutsamer sind.
Zuordnung der Geschlechter erfolgt anfangs anhand physischer Merkmale
o Erkennen der zeitlichen Stabilität des Geschlechts: Kinder verstehen, dass sie schon
immer Junge oder Mädchen waren, dies auch in Zukunft sein werden, und dass
kleine Mädchen später Mütter und keine Väter werden. Allerdings verstehen Kinder
auf der Stufe noch nicht, dass das Geschlecht über Situationen hinweg konstant ist.
3-5 Jahre
o Geschlechtskonstanz: Kinder verstehen, dass das Geschlecht über alle Situationen
hinweg konstant ist, sich also nicht verändert. 5-7 Jahre
, Das Erkennen der genitalen Unterschiede fördert das Erkennen der Geschlechtskonstanz
1.3 Entwicklung von Wissen und Einstellungen über die Geschlechter
Kinder und Jugendliche erwerben Wissen und Vorstellungen darüber, in welchen Merkmalen
sich die Geschlechter unterscheiden und welche Verhaltensweisen für M und W angemessen
sind. Sie erwerben sowohl Wissen über tatsächlich bestehende Geschlechtsunterschiede,
aber auch über in der Kultur verbreitete Geschlechtsstereotypien, welche die Realität oft
verzerrt wiedergeben und z.B. die Stärke von Geschlechtsunterschieden übersteigern
Es erfolgt eine Abfolge von der Unkenntnis über die Entwicklung rigider zu flexiblen
Vorstellungen des Wissens über Geschlechterunterschiede
Anfänge des Wissens über Geschlechtsstereotypien im 2. Lebensjahr
o Ende des Vorschulalters ist dieses Wissen in Bezug auf Besitz von Dingen, der
äußeren Erscheinung und beobachtbarer Verhaltensweisen gut entwickelt
o Wissen um geschlechtstypische Persönlichkeitseigenschaften entwickelt sich etwas
langsamer, da diese Information weniger gut der Beobachtung zugänglich ist.
o Wenn Kinder nur zwei Antwortalternativen (typisch weiblich/männlich) auswählen
können, nimmt der Anteil stereotyper Zuordnungen bis zum Beginn der Adoleszenz
kontinuierlich zu.
o Für Untersuchungen von Veränderungen der Rigidität und Flexibilität ist dagegen die
Verwendung eines differenzierteren Antwortmodells nötig:
Ergebnisse einer solchen Untersuchung zeigten, dass Stereotype
Zuordnungen vom ersten Messzeitpunkt bis zum Alter von 6 J anstiegen und
danach wieder abfielen. Flexible Zuordnungen nahmen bis zum Alter von 6
Jahren leicht ab und stiegen danach deutlich an. Gegenstereotype
Zuordnungen traten nur selten auf und sanken bis zum Alter von 10 J auf 0
Andere Längsschnittstudien fanden auch eine Zunahme flexiblerer Urteile in
der mittleren bis späten Kindheit, z.B. auf typische M/W Berufe.
Die meisten Studien zeigten, dass Mädchen mehr Wissen über
Geschlechtsstereotypien als Jungen besitzen und dass Mädchen auch
flexibler als Jungen in Bezug auf diese Stereotypien sind
Die Gender Intensification Hypothese:
o Annahme, dass zu Beginn der Pubertät der Sozialisationsdruck zur Anpassung an
gesellschaftlich vorgegebenen Geschlechtsrollen ansteigen würde und
Geschlechtsstereotypien vorübergehend rigider würden.
o So müssen Jugendliche die für Frauen bzw. Männer typischen Verhaltensweisen
lernen, sie streben nach verstärkter Anerkennung durch Gleichaltrige und nutzen
dabei Geschlechtsstereotypien zur Orientierung.
o Befunde zu zusammenhängen der Pubertät mit der Flexibilität von
Geschlechtsstereotypien sind allerdings inkonsistent.
Jüngere Kinder erklären Geschlechtsunterschiede stärker biologisch, ältere zunehmend durch
soziale Einflüsse
1.4 Entwicklung von Geschlechtsunterschieden in Präferenzen und Verhaltensweisen
Anfänge der Bevorzugung geschlechtstypischer Spielzeuge liegen schon im ersten LJ
o Befunde dazu sind aber nicht konsistent
Konsistente Geschlechtsunterschiede in der Bevorzugung von Spielzeug und Aktivitäten sind
im 2. LJ zu beobachten
, weitere Zunahme der geschlechtstypischen Präferenzen wird im Vorschulalter beobachtet
Am Ende des Vorschulalters gibt es so deutliche Geschlechtsunterschiede im Spiel, dass man
fast von unterschiedlichen Spielkulturen sprechen kann
Veränderungen vom Vorschulalter zum Grundschulalter betreffen vor allem die zunehmende
Ablehnung für das eigene Geschlecht untypischer Aktivitäten
o während eine weitere Zunahme der Präferenzen für geschlechtstypische Aktivitäten
nach Erreichen des Schulalters kaum beobachtet wird
o Mit der Zunahme geschlechtstypischer Präferenzen geht auch ein Zuwachs der
korrelativen Stabilität der Präferenzwerte einher.
o starke geschlechtsstereotype Präferenzen große korrelative Stabilität
1.5 Zusammenhänge zwischen Geschlechtsidentität, Einstellungen und Verhalten
Kohlberg: Das Erkennen der Geschlechtskonstanz geht mit mehr Interesse an Informationen
über die Geschlechter einher
Heute sieht man das Verständnis der Geschlechtskonstanz nicht länger als Voraussetzung für
den Erwerb von Wissen über die Geschlechter an.
Man geht davon aus, dass der Erwerb der Geschlechtskonstanz nur die Empfänglichkeit für
geschlechtsrelevante Informationen erhöht und mit einer Konsolidierung der Urteile über
geschlechtstypische Verhaltensweisen verbunden ist
o Die ersten beiden Stufen der Entwicklung der Geschlechtsidentität gehen einher mit
einer höheren selektiven Aufmerksamkeit für Infos über das eigene Geschlecht, dem
verstärkten Nachahmen gleichgeschlechtlicher Modelle, mehr geschlechtstypischen
Verhaltensweisen, Bekleidungspräferenzen und Präferenzen für Peers, mehr Wissen
über Geschlechtsunterschiede und Geschlechtsstereotypien sowie positiveren
Bewertungen des eigenen Geschlechts
o Diese Zusammenhänge findet man auch in altershomogenen Gruppen
Zusammenhänge der 3. Stufe der Entwicklung der Geschlechtsidentität mit Einstellungen und
Verhaltensweisen sind dagegen weniger eindeutig.
Die Entwicklung von Geschlechtsidentität, Geschlechtsrollenpräferenzen und
geschlechtstypischem Verhalten hängen insgesamt positiv, jedoch weniger eng zusammen
als ursprünglich von Kohlberg postuliert.
1.6 Einflüsse auf die Entwicklung von Geschlechtsidentität, Einstellungen und Verhalten
1.6.1 Biologische Einflussfaktoren
Arten biologischer Einflüsse:
o chromosomale Einflüsse (auf den Geschlechtschromosomen liegende Gene) und Einflüsse
der Geschlechtshormone
o Geschlechtsunterschiede in der Gehirnlateralisation als Erklärungen für Unterschiede in
kognitiven Leistungen
o Unterschiede in der Reifungsgeschwindigkeit als Erklärungen für Unterschiede bei der
Entwicklung kognitiver und feinmotorischer Leistungen
Verhaltensgenetische Studien fanden, dass genetische Faktoren ca. 34 % - 58 % der
interindividuellen Variabilität geschlechtstypischer Präferenzen für Spielzeuge und
geschlechtstypischen Spielverhaltens vorhersagen
o bei Spielzeugpräferenzen von Mädchen war der genetische Einfluss schwach 6%.
o Die geteilte Umwelt klärte 22% bis 51% der Varianz der beiden Verhaltensmaße auf.