Wolfgang Schneider
Lesen und Schreiben lernen - Wie erobern Kinder die Schriftsprache?
1. Entwicklung Schriftsprache
- Älteste Schriftzeichen ca. 5500 v. Chr. in vielen verschiedenen Regionen der Welt
- dienten etwa in Mesoptamien v.a. als Gedächtnisstütze bei der Buchführung
- Anfangs bestand diese „Keilschrift“ aus Piktogrammen (vereinfachte bildhafte Darstellung
eines Gegenstandes mit klarer Bedeutung)
- dann wandelte sie sich im Verlauf von Jahrhunderten insofern, als nun ein Zeichen je nach
Sinnzusammenhang unterschiedliche Bedeutung haben konnte
- Die etwa zur gleichen Zeit entstandene Hieroglyphenschrift unterschied sich von der
Keilschrift darin, dass einzelne Zeichen auch die Lautung der gesprochenen Sprache
wiedergaben à damit konnten komplexere Sachverhalte dargestellt und Texte zu
unterschiedlichen Inhalten formuliert werden (Erziehungsfragen, Gebeten, Rechtstexten und
medizinischen Abhandlungen)
- Der Umgang mit der Schrift wurde in Tempelschulen gelehrt.
- Ab dem 13. Jahrhundert v. Chr.: gestufter Bildungsgang in Ägypten, in dem zwischen
elementarem und höherem Schreibunterricht unterschieden wurde
- Nur wenige Personen beherrschten das Lesen und Schreiben à Schreiberzunft in Ägypten
wurde privilegierte Schicht à sie kontrollierte Steuereinnahmen wie auch
Ausbildungsinhalte
1.1 Übergang von Keilschriften auf Alphabetschriften
- erste Alphabetschrift geht auf die Phönizier (etwa 1500 v. Chr.) zurück, Ursprung bis heute
ungeklärt
- phönizische Alphabet enthielt zunächst nur Konsonanten, von denen später einige als
Vokalzeichen benutzt wurden
à mit der Ergänzung dieser Schrift durch Vokalzeichen entwickelte sich das uns bekannte
Alphabet
- Römer gestalten nun die griechische Schrift zur „lateinischen Schrift“ aus
à Nun Groß- und Kleinbuchstaben
- Ab nun Elementar- und Kinderschulen für Jungen in Athen
- In Rom war Lesen und Schreibenlernen zunächst Aufgabe der Familie (öffentliche Schulen
gab es dennoch)
- Unterricht fand auf Straßen und Plätzen statt, ging nicht über Anfangsunterricht hinaus und
wurde von „erbärmlichen“ Schulmeistern durchgeführt
- Lateinische Alphabet wurde in der Folge auf viele romanische, germanische, slawische und
andere Sprachen übertragen à weiteste verbreitete Alphabet der Welt
- 6-8 Jhd: Vielfalt an regionalen Schreibstilen („Nationalschriften“) entstanden
- Der Kern blieb jedoch überall erhalten
- Probleme ergaben sich, wenn die lateinische Schrift für die deutsche Sprache verwendet
werden sollte, da nicht alle Laute der dt. Sprache in der lat. Schrift darstellbar waren
,- Mittelalter: u, w, j wurde in das lateinische Alphabet als Schriftzeichen für eigenständige
Laute eingefügt
- Seit dem 13. Jahrhundert erfuhr die volkssprachliche Schriftkultur in Europa durch das
Aufblühen der städtischen Kultur einen enormen Aufschwung à Breite
Bevölkerungsschichten hatten Zugang zur geschriebenen Sprache
- Weitere treibende Kraft dieses Aufschwungs: Erfindung des Buchdrucks durch Johannes
Gutenberg (um 1440)
- Zunächst vorwiegend lateinische Bücher – Versuch diese Universalsprache durch eine
neuhochdeutsche Schriftsprache zu ersetzen
- Reformation: Erfinder und wesentlicher Gestalter der neuen Schriftsprache: Martin Luther
à betrieb enorm großen Aufwand, um die neue „gemeine Sprache“ zu popularisieren
à Lutherbibel: vermittelte wesentliche Normen
- mit den Flugblättern der Reformation ab 1517 erlebte der Buchdruck seinen Durchbruch
und enorme Verbreitung
- Flugblätter mit religiösem und politischem Inhalt stellten eine Öffentlichkeit dar, an der
auch die einfachen Schichten teilhaben konnten
- Lutherbibel verbreitete sich schnell über Dialekt – und Mundartgrenzen hinweg
à Menschen verstanden die neue Sprache
à Menschen jeder Volksschicht wollten lesen und schreiben lernen
1.2 Entwicklung Schule und Unterricht im deutschsprachigen Raum
- Ab etwa 1250: Entstehung von städtischen Schulen (neben kirchlichen), die unter
„weltlicher“ Leitung standen
- Zunächst Lesen, Schreiben und Rechnen in lateinischer Sprache
- Ab dem frühen 16. Jahrhundert: Deutsch als Unterrichtssprache
- Grundsätzlich: Insgesamt weiß man nicht wirklich viel über die Verbreitung der deutschen
Schulen und Schulpraktiken des späten Mittelalters
-1592: allgemeine Schulpflicht für Jungen UND Mädchen im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken
- Entwicklung in katholischen Landesteilen verlief eher zögerlich à BAYERN: 1802
gesetzliche sechsjährige Unterrichtspflicht
- Unterrichtspflicht: keine Pflicht zum Besuch einer öffentlichen Schule, sondern auch
Heimunterricht
- Es fehlten Schulgebäude, ausgebildete Lehrer und funktionierende Kultusbürokratie
- Ausmaß der Lesekompetenz (Quellen: Unterschriften von Gerichtsakten, Heiratslisten
usw.)
- Thüringen und Sachsen fortgeschritten, Bayern und Pommern besonders rückständig (Ende
18 Jhd.)
- große Stadt/Land- Unterschiede:
- katholisch geprägte ländliche Regionen hatten niedriges Niveau (1800: 50% der
Bräutigame und 10% der Bräute konnten ihren Namen schreiben)
- evangelisch geprägte städtische Regionen: 70% der Bräutigame, und 40% der Bräute
konnten ihren Namen schreiben
,Ausbildung der Lehrkräfte:
- Zunächst schlechter Ruf und schlechte Bezahlung in Rom
- Im Mittelalter nahmen zunehmend Mönche und Nonnen (besserer Ruf!) Einfluss auf die
Entwicklung des deutschen Schulwesens
- Ab 13 Jhd: Bildungsmonopol der Kirche wurde durchbrochen, indem Stadt- und
Ratsschulen eingerichtet wurden
- in den städtischen Elementarschulen vermittelten deutsche Schreib- und Rechenmeister
zukünftigen Kaufleuten, Händlern und Handwerken grundlegende Kenntnisse
- Mit Verbreitung protestantischen Glaubens ab dem 16. Jahrhunderts: Bildung bekam
größere Bedeutung
- höhere Schulen bekamen größere Aufmerksamkeit als Elementarschulen à in diesen
lehrten meist Kirchenmänner bis sie eine eigene Pfarrstelle besetzen konnten
-- Später lehrten schlecht vorbereitete Kirchendiener und Küster bei geringer Besoldung à
soziale Stellung gleich die eines Knechtes à brauchten oftmals noch eine Nebentätigkeit à
Unterrichtsraum war gleichzeitig Handwerksstätte, Wohn- und Schlafraum für die
Lehrerfamilie und Stall für Kleinvieh
Verbesserung der schulischen Versorgung:
- Seit 1717 entstanden neben privaten Elementarschulen („Schreib-und Leseschulen“) auch
öffentliche Elementarschulen („Volksschulen“) à Kinder von vom 5. – 12. LJ gehen in die
Schule und werden entlassen, wenn sie lesen und schreiben konnten sowie Katechismus
beherrschten
- im Bereich der höheren Schulen entwickelten sich die Gelehrtenschulen („Lateinschulen“)
zu den Gymnasien
- Mit Einführung der Realschule und gehobenen Bürgerschule kam es zur Ausdifferenzierung
sowohl des Schulsystems als auch der Lehrstände
- Zwei Hälfte 18. Jhd: Dauer Volksschule 8 Jahre und Regelung, dass man mit dem Abitur den
Übergang zur Uni spezifizierte
- General-Land-Schul-Reglement 1763: Beginn der systematischen Lehrerausbildung im
Elementarbereich
- Wilhelm von Humboldt sorgte dafür, dass die Elementarschule nicht länger die schule des
armen Volkes blieb, sondern (vergleichbar mit der heutigen Grundschule) als erstes Glied in
der Ausbildungskette fungierte
- 1837: Einführung verpflichtender Lehrplan Gymnasium + bessere Ausbildung
Gymnasiallehrer à führte zu besserem Ruf, bessere Finanzen usw. (nicht aber für
Grundschullehrer)
- im Verlauf des 19. Jhd gelang es dann den allgemeinen Schulbesuch der Kinder
durchzusetzen à Mitte 19. Jhd. jedoch nicht mehr als 60% Schulbesucher
- 1920: Reichsgrundschulgesetz der Weimarer Republik: Einführung vierjährige Grundschule
1.3 Entwicklung Lese- und Grammatikunterricht im deutschsprachigen Raum
- Mittelalter: wenig über zugrunde liegende didaktische Prinzipien bekannt à wesentliche
Lehrmethode: Vorsprechen und Nachsprechen + Auswendiglernen von Texten
- Ende 15. Jhd: didaktisches Prinzip: Buchstabiermethode, die von Buchstabennamen
ausging à Buchstabennamen wurden gelernt à dann buchstabiert, wobei der Lehrer die
Buchstabennamen eines Wortes isoliert vorsprach (etwa: ge-o-te-te) und SuS sie zum
, Zielwort zusammenfügten à führte meist zum Lesen religiöser Texte à
Buchstabenmethode wurde mit Einführung kritisiert, hielt aber mehrere Jahrhunderte
à 1872 wurde sie in Preußen amtlich verboten
1. 1882: Valtentin Ickelsamer: Lautiermethode = vom einzelnen Laut und seinen Verbindungen
ausgehende synthetische Methode des Lesenlernens
- Ickelsamer ging von Analyse der gesprochenen Sprache und stellte Verbindung von
Buchstabenlauten mit Buchstaben in den Vordergrund
- Beim lautierenden Zusammenlesen von Schriftzeichen zu Silben oder Wörtern standen nur
die Laute selbst, nicht die Buchstaben im Mittelpunkt à Lautiermethode ging vom Abhören
der vorgesprochenen Wörter aus à wer die Wörter richtig abhörte, konnte sie aufschreiben
und lesen
Fazit Ickelsamer: Lerner wurde implizit auf die Verbindung Lesen/Schreiben aufmerksam
gemacht à dennoch konnte sich die Idee seiner Zeiten nicht durchsetzen
- Materialien fürs Lesen: religiöse Texte und Ortslisten sowie Berufsbezeichnungen
à Comenius (Didaktiker) griff die Lautiermethode erneut auf
à Comenius – der wie Ickelsamer die Buchstabiermethode ablehnte – orientierte sich bei
Beschreibung der Lautbildung v.a. an Naturlauten (Wind,Tierstimmen usw.)
Einstieg in die Schriftsprache: Kinder betrachten Bild -> ahmen die Stimme nach à sprechen
auf diese Weise Buchstabenlaut aus
- Lautiermethode wurde weiterentwickelt und perfektioniert à etablierte sich in den
Schulen à Nach Lautzeichenverbindungen hergestellt werden konnten, wurden Einzellaute
zu Silben und Wörtern zusammengeführt
à dieser methodische Ansatz (Weg von Teilen zum Ganzen) wurde von einigen als unassend
empfunden, da Kinder normalerweise von der Betrachtung des Ganzen zu der seiner Teile
übergehen
Gedike 1779: ganzheitliche Lesemethode
1) Vorlesen von Geschichten, ohne zu buchstabieren, lautieren oder syllabieren
2) anschließend lernten Kinder den ersten Satz der Geschichte auswendig
3) Satz wird in einzelne Wörter zerlegt à diese werden nun gelesen
à Einsatz erst ab 10. Lebensjahr
à Ansatz zu seinen Lebzeiten wenig verbreitet
à Ab den 1930 er Jahren unter dem Einfluss der Reformpädagogik wieder verstärkt
aufgegriffen
Entwicklung der Fibelproduktion:
1770: „Explosion“ der Fibelproduktion (1770-1790 130 neue Titel)
Zudem Entwicklung einer Methodenvielfalt:
- Mitte 19 Jh: analytisch-synthetisches Verfahren:
- ganze sprachliche Einheiten (Wörter oder Sätze)
- Danach Analyse Laute und Buchstaben
- Verbindung mit Synthese