Koller – Grundbegriffe, Theorien und Methoden der
Erziehungswissenschaft
Teil 1 – Grundbegriffe und Theorien
Kapitel 1
Der Erziehungsbegriff der Aufklärung: Kant
Der Zeitraum von etwa 1770 bis 1830 kann in historischer Perspektive als eine
Phase entscheidenden Veränderungen in der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen
Verfasstheit der mittel- und westeuropäischen Gesellschaft angesehen werden (viele
Veränderungen, die bis heute fortwirken).
Zeit in der die feudale Ständegesellschaft von der bürgerlichen Gesellschaftsordnung
abgelöst wird
Moderne Auffassung vom Menschen und seinem Verhältnis zu Gesellschaft und zur
Welt
Besondere Bedeutung kommt dem kulturellen Phänomen der Aufklärung zu
Diese europäische Bewegung begann im 17 Jhd
1.1 Was ist Aufklärung
prägnante Beschreibung der Grundgedanken in der berühmten Schrift „Was ist
Aufklärung“ von Immanuel Kant (1724-1804)
Immanuel Kant einer der wichtigsten Vertreter aufklärerischem Denkens
Zitat: “Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten
Unmündigkeit.“
Unmündigkeit Unvermögen sich seines Verstandes ohne fremde Hilfe zu bedienen.
Selbstverschuldet wenn Ursache nicht am Mangel des Verstandes, sondern der
Entschließung und des Mutes liegt, sich ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Sapere aude! habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen
Wichtig für Kant ist der menschliche Verstand, von dem jeder Einzelne selbstständig
Gebrauch machen kann und soll
Gründe, dass Menschen Vorschriften folgen:
„Faulheit und Feigheit“ (Kant)
Drohung und Bevormundung von Seiten der Obrigkeit
Die entscheidende Bedingung von Aufklärung besteht für Kant in der Freiheit
Jeder Mensch hat das Recht, seine eigene Meinung in Wort und Schrift öffentlich
kundzutun
1.2 Das „pädagogische Jahrhundert“
18. Jhd
neue Auffassung von Erziehung, wesentliche Momente der praktischen Organisation
von Erziehung wichtig für unser heutiges Erziehungssystem
Entdeckung der Kindheit
Kindheit als eine besondere vom Erwachsenenalter getrennte Lebensphase gab es
nicht immer Philippe Ariès(Geschichte der Kindheit)
Die Auffassung, dass Kindesalter vom Erwachsenenalter zu unterscheiden ist,
bezeichnet Ariès als eine Errungenschaft der Neuzeit, die sich erst im 19. Jhd in allen
Bevölkerungsschichten durchgesetzt hat
Kinder im Mittelalter wurden auf Bildern als verkleinerte Erwachsene dargestellt
Erst ab 1500 Blick für die Besonderheit der kindlichen Körperproportionen
Ariès setzte auch besondere pädagogische Formen des Umgangs mit Kindern durch
, Sie werden aus Erwachsenenwelt abgegrenzt in eine Art Schonraum
(Sonderbehandlung)
Entstehung der modernen (Klein)Familie, in deren Mittelpunkt das Kind steht
In langem Prozess parallel dazu etabliert sich eine besondere Institution zur
Vorbereitung der Kinder auf das Leben in der Gesellschaft Schule
Allgemeine Schulpflicht in Preußen zu Beginn des 18.Jhd verkündet, aber erst Mitte
19.Jhd für alle Kinder (auch Unterschicht) durchgesetzt
Etablierung eines pädagogischen Diskurses über Erziehungsfragen, die sich in D in
der zweiten Hälfte des 18. Jhd vollzieht
In diesem Zeitraum gibt es viele pädagogische Probleme z.B. Erziehung von
Waisenkindern
1779 in Halle erste Professur für Pädagogik an D Uni , das Fach hat als Teildisziplin
der Philosophie gegolten
Kant war Philosophieprof an der Uni Königsberg, hielt regelmäßig Vorlesungen über
Pädagogik
1.3 Kants Begriff von Erziehung
anthropologische Bestimmung
„Der Mensch ist das Einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“
Begründung liegt in der besonderen Ausstattung des Menschen im unterschied zum
Tier:
Tier ist bereits alles durch Instinkt, der Mensch braucht eigene Vernunft, hat
keinen Instinkt und muss sich selbst einen Plan seines Verhaltens machen. Da er
aber nicht von Anfang an dazu in der Lage ist müssen es andere für ihn machen“
Verhalten der Tiere weitgehend durch Instinkte festgelegt
Mensch zeichnet sich durch größere Offenheit aus, die zugleich mit Art
Hilflosigkeit verbunden ist, deshalb besondere Angewiesenheit auf andere
Das worauf Mensch durch Instinktarmut angewiesen ist, ist Erziehung
„der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als das,
was Erziehung aus ihm macht“
Paradox weil einerseits ist der Mensch für Kant zunächst noch nicht Mensch,
sondern ein „nichts“, aus dem erst durch Erziehung ein Mensch wird, andererseits
beginnt er den Satz mit „DER Mensch…daraus folgt, dass der Mensch irgendwie
eine Art Mensch sein muss
Paradox lässt sich auflösen, wenn man das, was den Menschen als
Menschen auszeichnet, als eine noch zu entfaltende Anlage begreift
Ziel von Erziehung laut Kant bleibt letztlich unbestimmt
„Vielleicht, dass die Erziehungen immer besser werden, jede Generation kommt
Schritt näher zur Vervollkommnung der Menschheit. Menschliche Natur wird immer
besser durch Erziehung.“ (Kant)
Weil Ziel der Erziehung unbestimmt und „Vollkommenheit der menschl. Natur“ ein
Geheimnis bleiben muss, ist Vervollkommnung d. Menschheit als zukunftsoffener
Prozess möglich und nötig
Das Ziel des durch Erziehung zu bewirkenden Vervollkommnungsprozess:
„es liegen viele Keime in der Menschheit, es ist unsere Sache, Naturanlagen
proportionierlich zu entwickeln, zu machen, dass Mensch seine Bestimmung
erreiche.“
„Tiere erfüllen diese von selbst, Mensch muss erst suchen, sie zu erreichen,
dieses kann aber nicht geschehen, wenn er nicht einmal einen Begriff von seiner
Bestimmung hat.“
„Bestimmung des Menschen“ ist für Kant keine Bestimmtheit, kein vorgezeichneter
Weg, sondern, ein Weg, den es erst noch zu „suchen“ gilt, ein vielleicht nie ganz
abzuschließender Prozess
, 2 metaphorische Formulierungen, die in der Geschichte des pädag. Denkens immer
wieder benutzt worden sind, um das Geschäft der Erziehung bildlich zu
veranschaulichen.
Zum einen Erziehung als herstellendes Machen ( es ist unsere Sache […] zu
machen, dass Mensch seine Bestimmung erreiche“), dass sich mit dem Tun eines
Handwerkers vergleichen lässt
Zum anderen, dass Erziehung als ein beschützendes Wachsenlassen begreift
(„die Menschheit aus ihren Keimen entfalten“), wird mit der Tätigkeit eines Gärtners
verglichen
Kant lässt offen, welche der beiden Metaphern ihm als geeigneter erscheint, auch in
Geschichte der Päd., stehen bis heute beide Bilder in unentscheidender Konkurrenz
zueinander
Entscheidend für Kant ist, dass Entwicklung der menschlichen Anlagen in keinem
Fall von ganz alleine geschieht
Erziehung ist als diejenige Tätigkeit, die diese Entwicklung befördern soll gemeint,
Kant zufolge eine „Kunst“, etwas, was ein spezifisches Können erforderlich macht
Diese Kunst soll nicht mechanisch, sondern „judiziös“, also planvoll und auf
begründeten Urteilen beruhend
Wichtiger Grundsatz dieser Pädagogik bildet Kant zufolge die Zukunftsorientierung
pädag. Handelns
„Kinder sollen nicht den gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich
besseren Zustande des menschl. Geschlechts, das ist: der Idee der Menschheit,
und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden“
„Eltern erziehen Kinder nur so, dass sie in die gegenwärtige Welt passen, sie
sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftig besserer Zustand dadurch
hervorgebracht wird“
„Die Idee der Menschheit“ als eines noch zu verwirklichenden Entwicklungspotentials
hat für Kant zur Folge, dass Erziehung nicht nur darin besteht Kinder auf das Leben
vorzubereiten, wie es gegenwärtig ist, sondern Unterstützung beim Finden der eigenen
Bestimmung
z.B. indem erzieherisches Handeln, Heranwachsenden dazu verhilft, ihre
gesellschaftlichen Lebensbedingungen nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern
selbst aktiv zu gestalten und zu verändern.
4 aufeinander aufbauende Stufen des Erziehungsprozesses:
Disziplinierung
Kultivierung
Zivilisierung
Moralisierung
Disziplinierung: „suchen zu verhüten, dass die Tierheit nicht der Menschheit, in dem
Einzelnen sowohl, als gesellschaftlichen Menschen, zu schaden gereiche“
Vorbedingung einer Erziehung, die auf die „Vervollkommnung der Menschheit“ abzielt
besteht darin, dafür Sorge zu tragen, dass die tierische Natur des Menschen der
„proportionierlichsten“ Entfaltung seiner spezifisch menschlichen Anlagen nicht im Wege
steht. (auch Sigmund Freud ist diesem Gedankengut gefolgt, viele Denker sehen in der
Beherrschung der eigenen Triebe eine zentrale Aufgabe der Erziehung)
Kultivierung: „Verschaffung der Geschicklichkeit“, also dem Kind alle Kenntnisse,
Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verschaffen, die notwendig sind, um irgendwelche
„Zwecke“ zu erreichen, „Belehrung und Unterweisung“ z.B. lesen und schreiben.
Geschicklichkeit hat gesellschaftlich-historische Dimensionen, denn diese Fähigkeiten
sind erst seit Durchsetzung der Schriftkultur einigermaßen unentbehrlich.
Zivilisierung: dafür zu sorgen, „dass der Mensch auch klug werde und in menschliche
Gesellschaft passe, dass er beliebt sei und Einfluss habe“ historische Veränderlichkeit
solcher Zivilisierung, richtet sich nach wandelbaren Geschmacke jedes Zeitalters