Geschichtskultur · Geschichtskultur lässt sich definieren als praktisch wirksame Artikulation von
(nach Rüsen/Gies) Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft.
· Diese Gegenwart von Vergangenheit und Geschichte und der Umgang mit ihr in der
Öffentlichkeit werden mit dem Begriff Geschichtskultur gekennzeichnet.
Geschichtsbewusstsein · Geschichtsbewusstsein als Gemisch verschiedener Bestandteile (Kenntnisse von Daten und
(nach Sauer) Ereignissen, Raumvorstellungen, Bildern und Erzählungen, Vor- und Werturteilen)
· Bildhafte Vorstellungen bestimmt durch Formen der Überlieferung (z.B. Hitler durch
Fotografien/Filmen, Napoleon als Gestalt in Gemälde)
· Je komplexer/reflektierter das Geschichtsbewusstsein desto mehr werden Elemente der
Begriffsbildung/Deutung zunehmen (von einzelnen Epochenkonzepten bis zu Theorien der
Geschichtswissenschaft)
· keine klare Organisationsstruktur = fließend, amorph, mit unterschiedlicher Wirksamkeit von
Kategorien (Chronologie, Systematik, Gegenwartsbezug)
· Inhalte des Geschichtsbewusstseins sind dem Wandel (kulturell/schulisch/…) ausgesetzt
Erinnerungskultur · formaler Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische
(nach Cornelißen) Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse
· Begriff umschließt alle Lebensformen neben Formen des historischen/antihistorischen kollektiven
Gedächtnis + alle anderen Repräsentationsmodi von Geschichte (Geschichtswissenschaftlicher
Diskurs + “private” Erinnerung mit öffentlichen Spuren)
· Träger der Kultur: Individuen, soziale Gruppen, Staaten
· Synonym mit der “Geschichtskultur” allerdings stärker fokussiert auf Moment des funktionalen
Gebrauchs für gegenwärtige Zwecke (deutlich: Erinnerungs-, Vergangenheits- und
Geschichtspolitik)
· Gleichberechtigung aller Formen von Aneignung erinnerter Vergangenheit
· Gegenstand der Erinnerungskulturgeschichte sofern sie einen Beitrag zur Formierung kulturell
begründeter Selbstbilder leisten
Gedächtnistheorie · Assmann unterscheidet drei Formen des ,,Gedächtnisses": das individuelle, das
(nach Jan Assmann) kommunikative und das kulturelle Gedächtnis.
· Das individuelle Gedächtnis werde geprägt von der Gemeinschaft, in der der Einzelne
aufwachse. In die eigene Erinnerung flössen Erinnerungen anderer Individuen ein. Wirklich
individuell seien nur die Gefühle, die sich mit den Erinnerungen verbänden.
· Die noch nicht weit zurückliegende Vergangenheit werde im kommunikativen Gedächtnis
erinnert. Es handele sich dabei um kollektive Erinnerungen von Menschen, die eine
gemeinsame Lebenszeit teilen und gemeinsame individuelle Erfahrungen gemacht haben.
Das kommunikative Gedächtnis umfasse etwa drei Generationen, bevor es aus biologischen
Gründen abbreche und sich neu bilde.
· Das kulturelle Gedächtnis stelle eine Form kollektiver Erinnerung dar, die auch weiter
zurückliegende Ereignisse umfasse und diese mythisiere. Es enthalte
„Ursprungsgeschichten“, die in festen Formen weitergegeben würden. Die Träger des
kulturellen Gedächtnisses seien anders als die Träger des kommunikativen Gedächtnisses
Spezialisten, die der Wahrung von Tradition verpflichtet seien. Während das kommunikative
Gedächtnis zur alltäglichen Erfahrung jedes Menschen gehöre, bedürfe das kulturelle
Gedächtnis besonderer Vermittlungsformen.
Gedächtnistheorie Individuelles Einzelne Person;
(nach Aleida Assmann) Gedächtnis Gedächtnis wird in sozialer Kommunikation herausgebildet.
Soziales Gedächtnis von Gruppen, z. B. Generationen;
Gedächtnis verbindet eigene mit fremder Erfahrung, an Lebenszeit der Träger gebunden;
entspricht dem „kommunikativen Gedächtnis" bei Jan Assmann.
Kulturelles macht Erinnerung dauerhaft verfügbar;
Gedächtnis ist mit dem sozialen Gedächtnis verknüpft, geht aber darüber hinaus;
wirkt auf das individuelle und soziale Gedächtnis durch Vermittlung über
symbolische Medien.
Kernmodul 13.2 Geschichts- und Erinnerungskultur - Seite 1
, Erinnerungsformen als Antrieb und Bremse historischen Wandels - Jan Assmann
· Mit ,,heißer" Erinnerung ist ein Bezug zur Vergangenheit gemeint, der Veränderungen, Umbrüche und historische
Besonderheiten betont. Sie bejaht historischen Wandel.
· „Kalte“ Erinnerung hebt dagegen Kontinuitäten hervor und diskreditiert den Wandel. „Kalt“ Erinnerung ist an einer
kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eher nicht interessiert, sondern an einer möglichst getreuen Wahrung
der Tradition.
„kalte“ Erinnerung „Heiße“ Erinnerung
· bestehende Verhältnisse stabil bewahren/Veränderungen · streben nach Veränderung (Antrieb = eigene Geschichte)
vermeiden („Einfrieren“ des Wandels)
· „kalte“ Elemente (Kühlsysteme): Institutionen, mit deren · heiße Systeme (Heizsysteme)
Hilfe Kulturen geschichtlichen Wandel einfrieren
Quietive (Beruhigungsmittel, Dämpfung) Inentive (Anreiz, Ansporn)
Sinn: Wandel einfrieren, Umschwung, Veränderung = Sinn: Umschwung, Veränderung, Werden/Wachsen,
Kontinuität (wiederkehrend, regelmäßig) Depravation/Abstieg/Verschlimmerung = Einmalig
Mythos ist nach Assmann eine Erzählung über die „Zeit Die Geschichte „in unserem“ Sinne ist nach
des Werdens“, die am Beispiel des alten Ägypten mit der Assmann als Erzählung von menschlichen Taten
„Zeit der Götter“ zu identifizieren ist. Nur der Mythos und von Veränderungen zu verstehen.
berichte im Sinne der antiken Ägypter über
Erzählenswertes.
→ Mythos ist also eine eher unkritische Form der → Geschichte ist eher eine aktive
Tradierung historischer Erinnerung. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Gegenwartsbezug
„heiße“ Erinnerung: „kalte“ Erinnerung:
Brüche der Vergangenheit und der Wandel stehen in der „Erkaltung“ der Erinnerung durch ritualisierte Tradierung
Erinnerungskultur der Gegenwart deutlich im Vordergrund lebendiger Erinnerung (z.B. von Zeitzeugen) im Rahmen
der Erinnerungskultur
Die Mahnung an Verbrechen, die Erinnerung an
außergewöhnliche Taten und die Diskussion über den Erinnerung wird Teil des kulturellen Gedächtnisses und
Umgang mit Relikten der Vergangenheit oder verwandelt sie sich in Mythos,
Erzeugnissen vergangener Erinnerungskultur (z.B.
Straßennamen) prägen die öffentliche Auseinandersetzung
mit Geschichte.
Insgesamt dominiert wohl im Sinne Assmanns die „heiße“ Erinnerungsoption
Formen und Funktionen historischer Erinnerung - Jürgen Kocka
Formen historischer Erinnerung Funktion historischer Erinnerung
· Nationalfeiertage · Legitimation von Herrschaft
· Jubiläumsfeiern · Stabilisierung von Herrschaft
· Festschriften · Rechtfertigung politischer Entscheidungen
· Archive · Abwehr von Kritik
· Kunstwerke/ Denkmäler c · Begründung von Protest
· Museen · Stärkung nationaler Identität („Wir-Bewusstsein“)
· „Traditionspflege“ · Image-Pflege
· Mythen/Legenden
Zusammenhang Gedächtnisdimensionen (nach Assmann) und Formen/Funktion historischer Erinnerung (nach Kocka)
· Für die von Kocka erwähnten Nationalfeiertage ist das „kulturelle Gedächtnis“ besonders relevant
· Das gilt auch für alle anderen Formen bewusster Traditionspflege, die auf eine generationenübergreifende und stabile
Erinnerung zielen (Archive, Museen, Mythen, Denkmäler).
· Die im Text genannten Beispiele beziehen sich meist auf eine länger zurückliegende Vergangenheit, die durch bestimmte
Erinnerungsformen und zu einem bestimmten Zweck ins Gedächtnis gerufen werden soll (Unabhängigkeit, Kolonialherrschaft
bzw. präkolumbianische Traditionen).
· Auch nationale Stereotype sind als Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses zu werten.
· Zentral ist für Kocka die Gegenwartsbedeutung der in Dienst genommenen Vergangenheit. Das kann unter Umständen auch
eine jüngere Vergangenheit sein, die im sozialen Gedächtnis präsent ist. Das gilt beispielsweise für die Dolchstoßlegende oder
Bezüge zum Faschismus.
Kernmodul 13.2 Geschichts- und Erinnerungskultur
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