SS19 DE BM1A
EINFÜHRUNG IN DIE NEUERE DEUTSCHE LITERATURWISSENSCHAFT
VORWISSEN: EDITIONSPHILOLOGIE & BIBLIOGRAPHIEREN
Benedikt Jeßing: Bibliographieren für Literaturwissenschaftler, S. 7-14, S. 117-135.
Vom Sinn & Ziel des Bibliographierens
• Bibliographieren = Sichten möglicher Sekundärliteratur zu einem Text/Thema
Rainer Grübel/Ralf Grüttemeier/Helmut Lethen: Text und Edition, S. 63-70.
Was ist ein Text?
• Text (lat.: Gewebe). textere lat.: weben, flechten, kunstvoll zusammenfügen
• Definition: Ein Text ist eine in gewisser Weise abgegrenzte und in gewissem Maße geschlossen
rezipierbare, in einer natürlichen oder künstlichen Sprache gefasste mündliche, schriftliche oder in einem
elektronischen Medium gespeicherte Äußerung, die gegebene Bedeutung mitteilt und/oder neue
Bedeutung erzeugt.
3 Typen von Ausgaben/Editionen: Historisch-kritische Ausgabe, Studienausgabe, Leseausgabe
Historisch-kritische Ausgabe Studienausgabe Leseausgabe
-Der Herausgeber informiert über die Fassung, die der Ausgabe -Bietet einen gesicherten -Verzichtet auf alle
zugrunde liegt, und über die Eingriffe, die er selber vorgenommen hat. Text Erläuterungen
-Gesicherter Text -Bietet einen Bericht des -
-Breitet Material zur Entstehungs- & Überlieferungsgeschichte Herausgebers über die
-Erleichtert das Verstehen des Textes durch einen Kommentar gewählte Textgrundlage
-Kritischer Apparat: hier sind die versch. Lesearten & Varianten Bietet ein Verzeichnis aller
verzeichnet. Herausgebereingriffe
• Methode zur Herausgabe älterer Texte: Arbeitsschritte:
- (a) Recensio, (b) Examinato, (c) Emendatio
WAS IST LITERATUR?
Jonathan Culler: Was ist Literatur & ist sie wichtig? S. 31-63
• Literatur
- Kann nicht komplett erfasst werden
- Sie ist nicht ausdeutbar; man kann immer wieder neue Interpretationen dazu machen/andere
Aussagen treffen
- Der Großteil der Literatur wurde über Literatur geschrieben
- Literatur als Kunst; ≠Schema
Konventionen der Literatur
• Hyper-protected cooperative principle (hochgradig geschütztes Kooperationsprinzip)
- Kooperation beruht auf der Konvention, dass ihre Teilnehmer miteinander kooperieren & dass
deshalb das, was eine Person zur anderen sagt, aller Wahrscheinlichkeit nach von Bedeutung ist
- Annahme, dass mein Gesprächspartner kooperiert
Das Wesen der Literatur: 5 Punkte von Literaturtheoretikern
1. Literatur als aktualisierender Sprachgebrauch
• Literatur = Sprache, die sich selbst in den Vordergrund stellt (foregrounding)
- Lenkung auf die sprachlichen Strukturen
2. Literatur als mehrfachkodierte Sprache
• Beziehungen zwischen den Strukturen und inhaltlicher Gliederung
3. Literatur als Fiktion
• Die Äußerungen in der Literatur stehen in einem besonderen Verhältnis zur Wirklichkeit à Verhältnis ist
„fiktional“
• Literatur = sprachliches Ereignis, das eine fiktive Welt mit einem Sprecher/Figuren/Handlungen/implizite
Adressatenschaft entwirft
• Deiktika (Singular: Deixis) = Zeigewörter; Ort- & Zeitangaben in der Literatur sind natürlich das hier und
da in der Diagese
• „now“/ „nun“ deutet auf einen bestimmten Zeitpunkt im Gedicht;
• Diagese = Erzählwelt
4. Literatur als ästhetisches Objekt
• Historisch: „Ästhetik“ = Philosophie der Kunst
- Ziel: das Kunstwerk selbst; kein werkexterner Zweck!
• Literarisches Objekt = ästhetischen Objekt,
5. Literatur als intertextuelles oder autoreflexives Konstrukt
• Texte bestehen aus anderen Texten; sie werden ermöglicht durch Vorgängertexte
• Text als Literatur lesen = Text als ein sprachliches Ereignis betrachten, das seine Bedeutung in der
Relation zu anderen Texten hat
• Autorreflexivität von Literatur
- Literatur = Tätigkeit, bei der Autoren versuchen, Literatur vorwärts zu bringen/zu erneuern à
Nachdenken über Literatur selbst
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EINFÜHRUNG IN DIE NEUERE DEUTSCHE LITERATURWISSENSCHAFT
LITERARISCHE KOMMUNIKATION
Ralf Klausnitzer: Was ist literarische Kommunikation? S. 332-358
Was ist literarische Kommunikation?
• Literatursystem: Autor, Leser, Text
• Stationenlauf: personaler Urheber à Verleger à Verlag à Buchhandel/Sortiment
Elemente der literarischen Kommunikation
• Literarische Kommunikation: alle durch Personen & Institutionen realisierten Interaktionen, in deren
Verlauf literarische Texte produziert, technische vervielfältigt und verbreitet, rezipiert und diskutiert
werden.
• Literarisches Leben unter medialen Bedingungen: Autoren, Leser, Verleger & Kritiker bilden
Gemeinschaften aus, die durch einen spezifischen Bezug auf das Medium Literatur gekennzeichnet sind
- Mediale Aspekte von Literatur = die Strukturen & Funktionen zur Aufzeichnung, Speicherung &
Übertragung von (ästhetisch formierten) Nachrichten
Elemente der literarischen Kommunikation
• Zerdehnte Kommunikation = Sprecher/Autor und Hörer/Leser einer Nachricht sind räumlich und zeitlich
voneinander getrennt
• Zwischenspeicherung der Rede
- Oral (mündliche Form): Ein Bote memorierte die Mitteilung eines Absenders & überbrachte sie
einem Empfänger, der sie an einem anderen Ort zu späterer Zeit aufnehmen könnte
- Schriftliche Form: kann Mitteilungen (a) außerhalb & unabhängig von personalen Trägermedien
fixieren, (b) langfristig speichern, (c) zu einem beliebigen Zeitpunkt wieder einschalten
Die produzierende Instanz: Autor
• das Preußische Landrecht (1794) sicherte eine Mitsprache bei Nachauflagen, Bearbeitungen,
Übersetzungen. à ein Bundesbeschluss (1835) verbot den unerlaubten Nachdruck
Distributive Instanz: Verlagswesen & Buchhandel
• Der Verleger vermittelt zwischen Textproduzenten (Autoren) & Rezipienten (Lesern); zwischen
Buchproduzenten (Druckern) und Händlern (Sortimentern)
Rezipienten: Leser & Publikum
• Publikum = Anonyme Instanz, an die Autoren ihre literarischen Äußerungen richten
• Publikum = als Gesamtheit von sozial, alters- & geschlechterspezifisch differenzierten Adressaten, die in
individuellen Rezeptionsprozessen die Potentiale literarischer Texte erschließen; es kennt
unterschiedliche Formen des Umgangs mit Texten sowie divergierende Rezeptionshaltungen
Vermittlungsinstitutionen
• Literaturkritik als Gesamtheit von kommentierenden, verteilenden, klassifizierend-orientierenden,
werbenden & denunzierenden Äußerungen über Literatur
• Alle Aussagen über Literatur = Literaturkritik
• Wesentliche Voraussetzungen für den Funktionswandel von Literaturkritik:
- (a) Eine zunehmende Alphabetisierung & die damit verbundene Ausbildung von Leseschichten
- (b) Ein expandierter Buchmarkt mit einer rasch steigenden Zahl von volkssprachlichen
Neuerscheinungen weltlichen Inhalts
- (c) ein wachsender Aktualitätsdruck durch beschleunigten Ausstoß neuen Lesestoffs
• Was macht Literaturkritik?
- Informiert, indem sie einen Überblick über die zunehmend unüberschaubare Zahl von
Neuerscheinungen verschafft
- Wählt aus, indem sie durch Selektion rezensionswürdiger Werke & ihre Bewertung potentiellen
Lesern eine Entscheidungshilfe zum Kauf & zur Lektüre gibt
- Wirkt didaktisch, indem sie Wissen & Fähigkeiten im Umgang mit Texten vermittelt – und dabei
auch die Lektüre von Werken erleichtert, die aufgrund ihres Bruchs mit eingespielten
Leseerwartungen zu Verständnisschwierigkeiten führen
- Sichert Qualität, indem sie Autoren & Verlage auf Stärken und Schwächen der publizierten Texte
hinweist; in der Artikulation von Erwartungshaltungen auf die zukünftige Buchproduktion einwirkt
- Stimuliert die öffentliche Reflexion über Literatur; treibt so auch selbstreflexive Prozesse innerhalb
des Literatursystems voran
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EINFÜHRUNG IN DIE NEUERE DEUTSCHE LITERATURWISSENSCHAFT
Kanon & Kanonbildung
• Normen & Konventionen, die stabilisierende Funktionen für die Kommunikation über Literatur und das
kulturelle Selbstverständnis von Gesellschaften übernehmen
• Diese Normen & Konventionen entscheiden darüber, was in einer Gesellschaft als Literatur angesehen
wird
• Kanon (griech.): „Richtschnur“, „Vorschrift“
• Kanonbildung in 3 Schritten:
- Innovationsakt: Zusammenfassung bestimmter Texte durch wissenschaftliche & literaturkritische
Bemühungen
- Primärrezeption: den kommunikativen & Konsens über Berechtigung/Anerkennung einer so
kompilierten Textgruppe gewährleistet ein zugrunde gelegtes Werte- & Sinnsystem
- Sekundärrezeption: Akzeptanz des Textkorpus & Etablierung als Kanon
WAS IST EIN AUTOR?
Roland Barthes: Der Tod des Autors, S. 181-193
Einleitung
• „Der Tod des Autors“ von Roland Barthes (1915-1980) das einflussreichste Plädoyer für eine
Verabschiedung des Autors aus der Interpretation literarischer Texte
• In französischen Schulen/Universitäten dominierte die „explication du texte“ à Ziel dieser Methode:
Herstellung einer Korrespondenz zwischen Autorbiographie & Werkbedeutung
- „Explication du texte“ = Gegner von „Der Tod des Autors“
• Barthes erklärt Texte zu einem „Gewebe von Zitaten“
- bringt damit die Autonomie der künstlerischen Kreativität zum Verschwinden
- Autor hat keine Leidenschaften, Gefühle, Stimmungen, Eindrücke
- reduziert den Autor zum kompilatorischen Schreiber („scripteur“)
- Autor entsteht beim Lesen des Textes à der Leser kreiert den Autor
- Autor hat keine Leidenschaften, Gefühle, Stimmungen, Eindrücke
- das Literarische wird mit der Loslösung von seinem Urheber identifiziert
• Ziel: die Lektüre literarischer Texte ist heute von dem Autor als Bezugspunkt der Interpretation zu
befreien, damit sie zur „ecriture“ werden kann à hier im Mittelpunkt: performative Äußerung
• Sprachphilosoph John L. Austin unterscheidet zwischen constatives & performatives
- Performatives = sprachliche Äußerungen, die einen Sachverhalt nicht nur beschreiben
(konstatieren), sondern durch eben den Akt der Äußerung auch erschaffen
• Leser
- Geburt des Lesers ist zu bezahlen mit dem Tod des Autor
Fotis Jannadis: Einleitung, Autor und Interpretation, S. 7-29
Einleitung
• 3 Typen von Positionen
- (a) der Autor steht im Vordergrund der Textinterpretation
- (b) der Text steht im Vordergrund der Interpretation
- (c) der Leser steht im Vordergrund der Interpretation
- (b) & (c) à völliger Verzicht auf den Autor
Autor
• Autorenphilologie
- Beschäftigung mit Leben & Werk eines Autors und deren Wechselwirkungen
- Annahme eines engen Zusammenhangs zwischen individueller Biographie und literarischem Text
• Konzept von Autorintention (Friedrich Schleiermacher)
- Autorintention = bewusste oder unbewusste Absicht des empirischen Autors, die es zu
rekonstruieren gelte, um ein Werk zu verstehen.
- Typische Fragen: Fragen nach Erlebnissen/Erfahrungen des Autors, nach der
seelischen/emotionalen Verfassung
- Typisches Textmaterial: biographische Zeugnisse & Selbstaussagen des Autors
• Psychoanalytische Literaturwissenschaft
• Antipsychologistische Kritik (Roman Ingarden)
- Es sei unmöglich, die Absicht oder die Psyche eines empirischen Autors zu erschließen
- Intention des Autors
• Strukturalistische Literaturwissenschaft
- empirische Autor = Verursacher des sprachlichen Zeichens; er ist abhängig von sozialen &
ökonomischen Bedingungen seiner Zeit, von literarischen Traditionen à diese werden vom Autor
vermittelt & manifestieren sich im literarischen Werk
Text
• Literarischer Text = ästhetisches Gebilde, das von den psychischen Bedingungen, die zu seiner
Entstehung beigetragen haben, unabhängig ist; ≠ biographisches Dokument des Autors
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